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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
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Jack nie etwas gesagt hatte, dass es eine Art Abmachung gegeben habe. Eine Verbindung. Der wahre Grund war der Zustand seiner Leber und dazu, wie sich herausstellte, der seiner Lungen. Er hatte Lungenkrebs, die beiden Krankheiten wetteiferten miteinander. Trotzdem, es hatte einen Auslöser gegeben. Kein gutes Wort, unter den gegebenen Umständen. Jimmy hatten kurz nach Michaels Tod die Kräfte verlassen. Nicht unbedingt ein Grund, aber eine gewisse Verwandtschaft. Es war, hatte sie damals gedacht, als hätte ihr Vater einen Bruder verloren. Oder als hätte er den Wettbewerb, wer länger leben würde, gewonnen und musste jetzt nichts mehr beweisen.
    »So war es eben«, sagte sie. »Das weißt du. Du weißt, wie es war. Er hatte eine schlimme Lunge und eine schlimme Leber.«
    »Und es passte gut.«
    »Was meinst du damit?«
    »Du weißt, was ich meine.«
    Seine nächsten Worte waren so   – oder schlimmer noch   –, als hätte er sich über den Tisch gelehnt und sie geschlagen.
    »Du hast ein bisschen nachgeholfen, stimmt’s, Ell? Du hast ihm was in den Tee getan. Oder in seinen Flachmann. Wurmpulver, Desinfektionsmittel, was weiß ich. Irgendeine Medizin für die Kühe. Du hast es ihm in sein Frühstück getan.«
    Seltsamerweise hielt sie, bevor sie hochging, zunächst das Bild von ihrem Vater in der Küche der Westcott Farm im Kopf fest, wo er in seinem angestammten Sessel saß, und dachte an all die Male, die sie ihm Frühstück gemacht hatte. Ihr zweiter Gedanke war, noch fast ruhig, ob Jack   – oder der Mann vor ihr   – womöglich dachte, sie habe etwas in
sein
Frühstück getan, und deshalb keins haben wollte.
    Dann war sie hochgegangen. Sie hätte auch lachen können. Konnte man über so etwas lachen? Hatte Jack   – oder dieser Mann   – das wirklich gesagt? War er in einem Zustand des Wahnsinns zu ihr zurückgekommen? Deshalb sagte sie es.
    »Bist du wahnsinnig, Jack? Bist du wahnsinnig?«
    Es war vielleicht falsch, das zu jemandem zu sagen, der womöglich wirklich wahnsinnig war. Oder zu einem Mann, der so viel durchgemacht hatte (und sie hatte immer noch nichts darüber erfahren) und jetzt zurückgekommen war. Aber sie hatte es gesagt. Und dann, mit einem aus der Tiefe kommenden Brüllen der Empörung, wie eine Hausmutter im Internat den Flur runterbrüllenwürde: »Wie kannst du es wagen, so etwas zu mir zu sagen? Wie kannst du es wagen?«
    Und der Wahnsinn war offenbar übergesprungen, sehr schnell sogar, denn nur kurze Zeit später, nachdem er lauter wahnsinnige Dinge zur Erklärung gesagt hatte, sagte sie im Gegenschlag Dinge, die ebenfalls wahnsinnig waren und gleichermaßen absurd, Dinge, von denen sie nie geglaubt hatte, dass sie ihr über die Lippen kommen würden.
    Jedenfalls hatte sie fast im gleichen heißen Atemzug ihre Handtasche genommen, in der ihre Schlüssel waren, hatte die Tür aufgerissen und war zu dem Wagen gegangen, aus dem er am Abend zuvor ins Haus gestolpert war. Sie war eingestiegen und mit kreischenden Reifen abgefahren. Gerade fielen die ersten Regentropfen aus dem dunkler werdenden Himmel, und als sie zur Hauptstraße kam, war es schon ein Sturzregen, wie zur Warnung. Aber sie konnte jetzt nicht zurück, nur wegen des Regens. Und so war es fast wegen des Unwetters, dass sie wie wild weiterfuhr.

31
    Ellie sitzt bei Holn Cliffs. Und Jack sitzt mit Blick in ihre Richtung, weiß aber nicht, dass sie da ist, und sieht einen Moment lang das weiße Tor an der Jebb Farm vor sich, nicht jedoch seine inzwischen wieder weggewaschenen Handabdrücke.
    Alles ist jetzt wahnsinnig geworden, alles ist aus den Fugen geraten. Er war losgefahren, um Tom zu begraben, und jetzt war alles, was tot und unter der Erde war, zurückgekommen, und es gab nur noch einen Weg, er hatte keinen Zweifel. Auch Tom war nicht wirklich unter der Erde. Er war in diesem Moment bei ihm, im Cottage, auch das bezweifelte Jack nicht. Es war ein Trick von Tom, seine Entscheidung, sich zu zeigen oder auch nicht, so viel wusste er inzwischen. Vielleicht stand Tom gerade jetzt an seiner Schulter. Ein Scharfschütze.
    Wenn Ellie nur mitgekommen wäre, wenn sie nur bei ihm gewesen wäre, vielleicht hätten sie dann zusammen Tom richtig unter die Erde bringen können. So wie sie ihn seit Jahren, wenn auch nicht im eigentlichen Sinne, zu begraben versuchten. Vielleicht wäre dann nichts von alledem geschehen. Aber Tom war nicht der Einzige, den sie, nicht im eigentlichen Sinne, zu begraben versucht hatten. Und das

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