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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
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waren, aber als sie es noch einmal sagte, nachdem sie schon über zwanzig waren, nachdem die Herden auf beiden Farmen mit Betäubungsspritzen außer Gefecht gesetzt worden waren, da war es etwas anderes, da war es bedenklich.
    Irgendwann kam er auf die Idee, dass Ellie im Grunde darauf wartete, dass ihr Vater starb. Nicht dass sie tatsächlich darauf hoffte, ihm könnte einer der verschiedenen tödlichen Unfälle zustoßen, die auf einer Farm überall lauerten, aber vielleicht war das ihre einzige Möglichkeit. Und es konnte lange dauern. Merrick war zähwie eine Distel, funkelnde Augen, drahtiger Körper. Und anscheinend war Rinderwahn nicht auf Menschen übertragbar, wenigstens nicht umgehend.
    Andererseits, da Jack nicht rund um die Uhr mit Jimmy leben musste, konnte er ihn auch nicht hassen (aber hasste Ellie ihn?), so wie er manchmal seinen eigenen Vater hasste. Schließlich hatte Jimmy ihnen diese vielen Nachmittage ermöglicht. Und weiß der Himmel, wann Jimmy das letzte Mal mit einer Frau zusammen gewesen war. Doch das war kein Grund, dass einem Mann die Kräfte schwanden, und er starb. Wenn doch, dann hilf uns Gott.
    Doch dann trat genau das ein: Jimmy schwanden die Kräfte, und er starb. Kurz nachdem Michael gestorben war.

7
    »Das mit Santa Lucia sollten wir lieber lassen.«
    Ellie hatte ihn angesehen, und er wusste gleich, dass er das nicht hätte sagen sollen, wenigstens nicht dann. Er hätte den richtigen Moment abwarten sollen. Es war eine zweitrangige Überlegung   – außerdem verstand es sich fraglos von selbst.
    Aber er war gleich damit herausgeplatzt, wie mit einer plumpen Geste der Wiedergutmachung. Und Ellie hatte ihn angesehen, und er hatte gleich gewusst, als er den Brief, nachdem sie ihn gelesen hatte, wieder in der Hand hielt, dass diese Sache, die aus heiterem Himmel auf sie niedergegangen war, einen Keil zwischen sie treiben würde. Er konnte schon das Schlagen des Hammers hören, der ihn trieb.
    Der Briefkasten stand auf dem Platz, und meistens ging Jack am Morgen hin und holte die Post, außer in den Winterwochen, wenn sie verreist waren und ihre Post lagern ließen (wenn dieser Brief in ihrer Abwesenheit gekommen wäre!). Es gab kaum Post, die direkt ins Haus kam.
    Aber an jenem Morgen vor neun Tagen, einem trüben grauen Morgen Anfang November, war ein rotes Postauto in die schmale, sich windende Straße eingebogen, die erjetzt im Blick hatte, um ihnen die Post zu bringen, darunter ein persönlicher Brief, auf dem allerdings »Ministry of Defence« stand. Außerdem musste er von jemandem nachgesandt worden sein, der ein langes Gedächtnis hatte, da er auch die alte, seit Jahren nicht mehr gültige Adresse trug: »Jebb Farm, Marleston«.
    Jack wusste, was drin stand, bevor er den Brief aufmachte.
    Nachdem er ihn geöffnet hatte und wirklich wusste, was er enthielt, konnte er nicht mehr beweisen, dass er es schon vorher gewusst hatte, aber das war auch nicht wichtig. Dennoch, er hatte es gewusst, schon als er den ungeöffneten Umschlag in der Hand hielt. Sein Verstand war jetzt nicht mehr der übliche schwerfällige Mechanismus. Er funktionierte schnell wie ein Schalter und außerdem elektrisch. Sein großer schwerer Körper hingegen schien durch den Fußboden wegzusickern und ihn machtlos zurückzulassen. Sein Gaumen war trocken. In demselben blitzartigen Moment der Erkenntnis schoss ihm, so absurd das war, der Gedanke an seine Mutter durch den Kopf, die schon so lange tot war und die in einem Postamt aufgewachsen war.
    Noch bevor er den Umschlag öffnete, hatte er gerufen: »Ell! Ellie! Wo bist du? Komm her.«
    Sie war hier oben gewesen, in diesem Schlafzimmer, und hatte die Bettdecke frisch bezogen. Als sie bei ihm war, hatte er den Brief immer noch nicht geöffnet.
    Und jetzt, da der Brief offen zwischen ihnen lag und Jack gesagt hatte, was er gesagt hatte, und Ellie ihm diesen verständnislosen Blick zugeworfen hatte, dachte er an die andere Situation   – und sah alles wieder vor sich   –,als ein anderer Brief, auch der einer, der alles zu verändern schien, zwischen ihnen gelegen hatte. Das damals war ein Brief an Ellie, und sie hatte gewartet   – hatte den Moment genau abgepasst   –, bis sie ihm den Brief zeigte. Sie waren beide splitterfasernackt, und Jack fragte sich, wo sie ihn, verdammt, versteckt hatte.
    Er sah wieder ihre schwingenden Brüste, als sie ihm den Brief gab. Vorm Fenster Julihimmel. Sie waren in dem großen Schlafzimmer.
    Aus heiterem

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