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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
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salutierten prompt, trotz fehlender Fahne. Es war, als wären sie für kurze Zeit Mitglieder der königlichen Familie, die sich absetzten. Sie kamen zum Haupttor und fuhren im Schritttempo weiter   – vielleicht ein klein bisschen mehr auf dem Gas   – durch die seltsame, halbmilitärische Stadt, wo die Passanten auf beiden Seiten halb überrascht, aber respektvoll stehenblieben, und einige von ihnen salutierten. Als wäre ihr einzelnes Fahrzeug eine ganze Prozession.
    Erst als die Stadt hinter ihnen lag, nahmen sie Geschwindigkeit auf. Nicht, dass sie rasten. In ihre Überlegungen, wann sie aufbrechen sollten, hatten sie eingerechnet, dass Jack vor ihnen losfahren würde. Zwar war sein Abgang abrupt gewesen, aber er hatte auch etwas Gutes   – diente er doch als Signal, dass sie, wenn sie wollten, frei waren zu fahren. Bloß mussten sie ihm einen Vorsprung lassen. Es war unwahrscheinlich   – und ein bisschen wie die Schildkröte, die den Hasen einholt   –, dass sie ihn einholen würden, aber sie wollten ihn auch nicht (obwohl sie nicht wussten, was für ein Auto er fuhr) plötzlich vor sich haben. Im Grunde hatte er dasselbe Ziel, und eigentlich gab es nur einen Weg. Hinter Swindon erst die M4, dann die M5.
    Warum sie sich auf dem Weg nicht begegnen wollten, hätten sie nicht erklären können, es war ein Gefühl. Warumsollten zwei Brüder unter diesen Umständen nicht so nah beieinanderbleiben wie möglich? Wenn man es so sagen konnte. Hätte Jack Luxton darauf bestanden, mit ihnen im Konvoi zu fahren (vorweg oder hinterher), hätten sie das respektieren müssen. Allerdings wäre es unbehaglich gewesen.
    Ohnehin wussten sie, dass sie zügig vorankommen und bei Fahrerwechseln oder Pausen so diskret und unauffällig wie möglich sein mussten. Schließlich konnte man einen Leichenwagen über eine Strecke von einhundertfünfzig Meilen nicht irgendwie fahren. Allerdings hatte keiner von ihnen einen Leichenwagen je auf einer so langen Strecke gefahren.
    Als sie auf die Landstraße kamen, befiel sie eine ungewohnte Schweigsamkeit, die nicht nur mit dem zu tun hatte, was sie hinter ihrem Rücken wussten. Daran waren sie gewöhnt, und auch daran, die Regeln der Schicklichkeit zu durchbrechen, wann immer sich die Gelegenheit ergab und niemand sie sah, wie auch jetzt auf der Landstraße. Und sich über dies oder jenes zu unterhalten.
    Aber dies hier war anders. Schwer, daneben zu bestehen. Als sich die hügelige Landschaft vor ihnen öffnete, als sie von Oxfordshire nach Wiltshire kamen, als die Wolken über den Hügeln aufbrachen und Sonnenstrahlen hindurchstießen, verschloss sich jeder in sich selbst, wurde nachdenklich, sogar ernst.
    In Wahrheit waren beide von dem, was sie gesehen hatten, berührt. Hier war es nicht möglich   – wie sie es normalerweise taten   –, nicht an das zu denken, was sie geladen hatten. Es war aus dem Flugzeug gekommen, es war aus dem Irak nach England geflogen worden. Es?Jetzt rieb es sich gewissermaßen an ihren Schultern. Sie hatten keinen Union Jack, was bedeutete, dass jeder, der sie sah, nur das denken würde, was man normalerweise dachte, wenn man einen Leichenwagen mit einem Sarg hintendrin sah. Sie würden nichts vermuten oder sich vorstellen. Also wussten nur
sie beide
, was genau sie meilenweit durch das Land fuhren.
    Ein ernüchternder Gedanke, wie auch der an die tatsächliche Strecke, die vor ihnen lag   – in dieser besonderen Gesellschaft.
    Obwohl sie nie darüber sprachen und schließlich doch das meditative Schweigen durchbrachen, hatten Derek und Dave beide das Gefühl, mit ihrer Fracht eine deutliche Bindung eingegangen zu sein. Auf den üblichen kurzen Fahrten trat das nicht ein, eher das Gegenteil. Aber diesmal war es, als hätten sie eine dritte Person auf der Fahrt dabei, sie waren eindeutig zu dritt. Das Gespräch oder die Kette unausgesprochener Gedanken, bezog alle drei ein.
    Es war   – nun, eine denkwürdige Fahrt. Und noch mehr. Eigentlich traf das Wort »unheimlich« zu (obwohl keiner von beiden es aussprach). Als sie schließlich ihr Ziel erreichten, die Kirche von Marleston in Devon, wo der Sarg über Nacht bleiben würde, waren sie erleichtert, verspürten aber auch ein seltsames Bedauern, fast als hätte man ihnen etwas genommen.
    Inzwischen war der Himmel klar, und der Novembertag war still und kalt. Auf dem Friedhof roch die Luft rauchig und frisch. Sie hatten ihre Ankunft per Telefon angekündigt, und Pfarrer Brookes sowie ein paar

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