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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
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zu fällen, war undenkbar (außerdem praktisch kaum zu bewältigen). Sie gehörte einfach zur Farm. Jeder, der den Blick zum ersten Mal vor sich sah, verstand auf Anhieb, dass der Baum eine feststehende, natürliche Gesellschaft für das Haus war, oder, anders gesagt, dass solange der Baum stand, auch das Haus bleiben musste. Und kein zufälliger Besucher   – besonders wenn er aus einer Stadt kam und den Baum an einem Sommertag sah   – konnte sich des schlichteren Gedankens erwehren, dass dies der perfekte Platz für ein Picknick war.
    Solche Gedanken waren weder Michael noch Jack jemals durch den Kopf gegangen (auch Tom nicht, als er noch da war). So gewöhnt waren sie daran, dass der Baum in der Mitte ihres Ausblicks stand, dass sie ihn die meiste Zeit gar nicht richtig wahrnahmen. Dennoch ging Michael in der eisigen Nacht im November mit dem Gewehr auf direktem Weg zu genau diesem Baum. Oder so direkt, wie der steile Abhang es erlaubte.
    Beweis für den Weg, den er eingeschlagen hatte, waren die Fußspuren im Raureif, die Jack wenig später im Licht der Taschenlampe erkannte. An einer Stelle war deutlich, dass sein Vater ausgeglitten und einen gutenMeter auf dem Hintern gerutscht war. Jack kam die Vorstellung merkwürdig vor, dass dieses kleine Missgeschick in einem solchen Moment passiert war   – dass sein Vater vielleicht unterdrückt geflucht hatte, weil ihm diese hinterhältige Kränkung widerfahren war. So wie auch der Gedanke merkwürdig war, dass es nicht bei einem einfachen Ausrutscher hätte bleiben können, angesichts der Tatsache, dass sein Vater zu der Zeit ein möglicherweise schon geladenes Gewehr bei sich trug. Es hätte ein viel schlimmerer Vorfall sein können.
    Wäre der Raureif   – anders als am Vortag   – nicht schon vor Tagesanbruch weggetaut, hätte man darin eine deutliche Aufzeichnung der Bewegungen auf dem Barton Field sehen können: Michaels Fußspuren, mit dem Ausrutscher, in eine Richtung, dann Jacks Fußspuren, getrennt davon, die in beide Richtungen verliefen (und trotz der großen Erregung, in der er sich befand, ohne einen einzigen Ausrutscher). Aber alle Spuren trafen sich bei der großen Eiche.
    In seiner Aussage hatte Jack von sich aus darauf hingewiesen, dass er den Fußabdrücken seines Vaters, als er sie entdeckt hatte, gefolgt sei, sie aber zugleich gemieden und einen großen Bogen um die breite Gleitspur gemacht habe, wo es zu dem Ausrutscher gekommen war. Er war instinktiv daneben gegangen, nicht aus forensischen Überlegungen, sondern weil es, wie er seinen Zuhörern nicht deutlich vermitteln konnte, wie sie aber vielleicht dennoch begriffen, die letzten Schritte seines Vaters gewesen seien.
    Das bedeutete natürlich, dass die abwärts gerichteten Fußabdrücke den Eindruck erwecken konnten, die beidenMänner seien zusammen gegangen. Mit Sicherheit gab es nur eine hügelauf weisende Spur. All das tat letztlich nichts zur Sache, denn bei Tagesanbruch und schon zu dem Zeitpunkt, als Jack bei der Polizei anrief   – er hatte es nicht gleich getan, einmal, weil er so erregt war, zum anderen, weil er wusste, dass praktisch nichts getan werden konnte, solange es noch dunkel war   –, trat eine Wetteränderung ein. Ein Wind erhob sich, brachte Wolken mit sich, und die Luft wurde merklich wärmer.
    Als die beiden Polizisten eintrafen und die Wiese hinuntergingen, zusammen mit Jack, der sich offensichtlich vor dem fürchtete, was er bei Tageslicht sehen würde, war die eisige Nacht in einen grauen, böigen Morgen übergegangen. Über ihnen, in den obersten Ästen der Eiche, säuselte fortwährend der Wind, abgerissene Blätter taumelten zu Boden. Der Raureif war verschwunden. Es nieselte sogar leicht. Deswegen wunderten sich die Polizisten vielleicht, warum Jack mit ihnen über die Fußspuren sprechen wollte, die er beim Licht der Taschenlampe gesehen hatte, die aber nicht mehr da waren   – es sei denn, dass er wie in einem Zwang jedes Detail immer und immer wieder durchleben musste. Den beiden Polizisten war das keineswegs fremd. Seltsam, wie es bisweilen aus den Schweigsamen machtvoll heraussprudelte und die Gesprächigen ihre Stimme verloren.
    Aber was die beiden Polizisten in erster Linie dachten, war: Wie es gewesen sein musste,
das hier
im Licht der Taschenlampe zu sehen?
    Auf jeden Fall war noch Frost, als Jack das erste Mal zu der Stelle kam, und das reflektierende Mondlicht musste hell genug gewesen sein, sodass die Taschenlampe kaumnötig war. Die

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