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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
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dunkle Masse der Eiche vor dem gespenstischen Silber der Wiese und die Waldung dahinter waren, wie Jack wusste, für seinen Vater, der keine Taschenlampe bei sich hatte, auch so sichtbar. Vielleicht hatte sein Vater auch das mitbedacht und gewartet, bis der Mond aufgegangen war und ihm leuchtete. So konnte er alles um sich herum ein letztes Mal betrachten. Von den Dingen in der Nähe hatte er sicherlich die Wurzeln am Fuß des Baumes, das Gewehr in seiner Hand mit seinem dumpf metallischen Blinken, seine Finger am Lauf ausmachen können.
    Michael hatte sich am Fuß des Baumes niedergesetzt. Eine der dicksten Wurzeln, nah am Stamm, formte eine Art Kuhle, in der man sehr bequem sitzen konnte. Trotz der Kälte zog er sich seine gefütterte Jacke aus, um vielleicht das Gewehr besser handhaben zu können, aber auch, um sie unter sich auszubreiten, bevor er sich setzte. Diese Vorkehrung war so seltsam wie sie natürlich war: Er wollte sein Gesäß, möglicherweise schon feucht nach dem Ausrutscher, vor dem kalten, harten Boden schützen. Es war wie die zusätzliche Decke auf dem Bett, aber das sagte Jack nicht. Auch erklärte Jack niemandem, was er für sich dachte, nämlich dass sein Vater die Jacke ausgezogen hatte, weil er durch die restlichen Schichten seiner Kleidung die knorrige Rinde und die stützende, zum Himmel aufragende, jahrhundertealte Festigkeit des Baumes in seinem Rücken spüren wollte.
    Außerdem hatte Michael seine Mütze abgenommen, wie als Respektbezeugung vor was immer. Seinen Kopf hatte er sicherlich an den Stamm mit der leichten Innenkrümmung gelehnt. Vielleicht war das aus technischenGründen nötig, aber Jack hatte keinen Zweifel, wenngleich er nichts darüber sagte (war es nicht offensichtlich? Warum sonst war Michael zu dieser Stelle gegangen?), dass dies aus demselben beherrschenden Motiv geschehen war. Sein Vater wollte seinen Kopf, seinen Schädel, seinen Rücken hart an die Eiche pressen und deren erwidernden Druck spüren. Rückgrat an Rückgrat.
    Jack wusste   – er wusste es von dem Weg zum Schulbus im Winter   –, wenn man bei Nacht mit der Taschenlampe leuchtete, dann erhellte der Schein den vor einem liegenden Weg, machte aber die Dunkelheit drum herum um vieles dunkler. Als er bei dem Baum ankam, wünschte er sich halb, dass er die Taschenlampe nicht dabeihätte. In ihrem Schein wirkte das Bild, das sich ihm bot, wie etwas, das auf einer Bühne gespenstisch arrangiert worden war, wo es nur noch in Licht getaucht werden musste, und alles andere daneben war, trotz des Mondlichts, pechschwarz. Obwohl Jack in gewisser Weise auf das, was er vorfinden würde, vorbereitet war, erlebte er die Entdeckung dennoch als Schock, und das zu beschreiben, was er in dem Moment empfand, überstieg seine Fähigkeiten. Obwohl sein Weg bergab geführt hatte   – vielleicht war es mehr ein Dahinkriechen gewesen   –, war er außer Atem, und sein Herz klopfte laut in seiner Brust. Vielleicht hatte er deshalb nach dem Herzen seines Vaters gefühlt, als könnte doch, solange das eine Herz so heftig schlug, ein anderes nicht stumm sein. Die Brust seines Vaters zu fühlen war auf jeden Fall sinnvoller als das zu berühren, was von seinem Kopf übrig war.
    Deshalb hatte er das kleine, harte Objekt in der Hemdbrusttasche gefühlt und genau gewusst, was es war. Erwagte nicht, es herauszunehmen. Warum sollte er es herausnehmen? Er war von widersprüchlichen Empfindungen gepackt. Bei dem Rückstoß war seinem Vater das Gewehr aus dem Mund und zwischen den Fingern weggeglitten, sodass der Doppellauf jetzt auf seinen Rumpf gerichtet war. Noch bevor Jack nach dem Herzen seines Vaters fühlte, hatte er automatisch das Gewehr beiseite gelegt, als wäre Michael noch in Gefahr.
    Das war alles falsch, wahrscheinlich hätte er nichts anfassen dürfen, aber er hatte es getan. Er hatte nicht gewusst, ob sein Vater beide Läufe geladen   – oder abgefeuert   – hatte oder ob noch eine Patrone im Lauf war. Er wusste nicht, ob er das Gewehr hätte öffnen sollen, um nachzusehen. Ob er möglicherweise das Gewehr hätte mitnehmen sollen, ins Haus und in Sicherheit (was eine seltsame Vorstellung schien). Alle normalen Handlungsweisen waren außer Kraft gesetzt. Gewöhnlich ließ man ein Gewehr, schon gar nicht, wenn es vielleicht noch geladen war, mitten auf einer Wiese liegen, selbst wenn es kurz vor Morgengrauen war. Man ließ auch seinen Vater nicht in einer solchen Position liegen. Jedenfalls nahm Jack das Gewehr

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