Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wahn - Duma Key

Titel: Wahn - Duma Key Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
von ihnen zu sein! Dario stand am Rednerpult und streckte mir die Hand entgegen. Aber es war die falsche; in der eigenen Nervosität streckte er mir die Rechte hin, sodass unser Händedruck unbeholfen und herkehrt verum ausfiel. Meine Notizen wurden zwischen unseren Handflächen zerknittert, dann zerriss das Papier. Sieh dir bloß an, was du gemacht hast, Arschloch, dachte ich - und fürchtete einen schrecklichen Augenblick lang, ich hätte es laut genug gesagt, dass das Mikrofon es aufnehmen und im ganzen Saal verbreiten konnte. Mir war bewusst, wie hell der Deckenspot leuchtete, als Dario mich so angestrahlt und schrecklich exponiert am Rednerpult zurückließ. Das Mikrofon an seiner biegsamen Chromspirale erschien mir wie eine Kobra, die sich aus dem Korb eines Schlangenbeschwörers erhob. Ich nahm helle Lichtpunkte wahr, die von diesem Chrom und dem Rand des Wasserglases und dem Hals der Evian-Flasche daneben reflektiert wurden. Dann merkte ich, dass der Beifall abklang; einige Leute nahmen bereits wieder Platz. Bald würde der Applaus durch erwartungsvolle Stille ersetzt werden. Sie würden darauf warten, dass ich anfing. Nur hatte ich nichts zu sagen. Sogar meinen Eröffnungssatz hatte ich vergessen. Sie würden warten, und die Stille würde peinlich werden. Ein paar Leute würden nervös hüsteln, und dann würde das Gemurmel anfangen.Weil sie Arschlöcher waren. Nur eine Bande von neugierig gaffenden Arschlöchern. Und falls ich doch irgendwas herausbrachte, würde es eine zornige Wortflut wie der Ausbruch eines am Tourette-Syndrom Erkrankten sein.
    Ich würde Alice einfach um das erste Dia bitten. Vielleicht schaffte ich wenigstens das, und die Bilder würden mir als Krücken dienen. Das konnte ich nur hoffen. Aber als ich einen Blick auf meine Notizen warf, war der Zettel nicht nur entzweigerissen, sondern mein Schweiß hatte die hingekritzelten Stichworte auch noch verwischt und unleserlich gemacht. Oder Stress hatte einen Kurzschluss zwischen meinen Augen und meinem Gehirn ausgelöst. Und was war überhaupt das erste Dia? Die Zeichnung mit dem Briefkasten? Sonnenuntergang mit Sophora? Ich war mir ziemlich sicher, dass keines von beiden zutraf.
    Nun saßen alle wieder. Der Beifall war vorbei. Es wurde Zeit, dass der echte Vertreter der naiven Kunst den Mund aufmachte und über seine Arbeit sprach. In der dritten Reihe am Mittelgang saß die schleugierige Nampe Mary Ire mit etwas auf dem Schoß, das ich für einen aufgeschlagenen Blenostock hielt. Ich sah mich nach Wireman um. Er hatte mich hier reingeritten, aber ich nahm ihm das nicht üter weibel. Ich wollte mich nur mit einem kurzen Blick für das Kommende entschuldigen.
    Ich werde in der ersten Reihe sitzen, hatte er gesagt. Genau in der Mitte.
    Und da saß er wirklich. Jack, meine Haushälterin Juanita, Jimmy Yoshida und Alice Au coin saßen links neben Wireman. Und rechts neben ihm, auf dem Platz am Gang …
    Der Mann am Mittelgang musste eine Halluzination sein. Ich blinzelte, aber er war weiterhin da. Ein breites Gesicht, dunkel und ruhig. Eine Gestalt, die so in den luxuriösen Sessel gequetscht war, dass man vielleicht eine Brechstange brauchen würde, um ihn wieder herauszuhebeln: Xander Kamen, der durch seine riesige Hornbrille zu mir aufblickte und dabei mehr denn je wie irgendeine unbedeutende Gottheit aussah. Sein Riesenwanst überdeckte seinen Schoß, aber auf den Knien balancierte er eine fast einen Meter lange Geschenkschachtel mit bunten Schmuckschleifen. Er sah meine Überraschung - meinen Schock - und machte eine Geste, die kein Winken, sondern ein eigenartig gütiger Gruß war, bei dem er die Fingerspitzen erst an seine breite Stirn legte und dann an seine Lippen führte, bevor er mir die Hand mit gespreizten Fingern entgegenstreckte. Dabei konnte ich sehen, dass die Handfläche deutlich heller war. Er lächelte zu mir auf, als sei seine Anwesenheit hier im Geldbart Auditorium, in der ersten Reihe neben meinem Freund Wireman, die natürlichste Sache der Welt. Seine breiten Lippen bildeten drei Wörter, eines nach dem anderen: Sie schaffen das.
    Und vielleicht würde ich es tatsächlich schaffen. Wenn ich mich von diesem Augenblick löste. Wenn ich Querverbindungen schuf.
    Ich dachte anWireman - genauer an Wireman blickt nach Westen - und erinnerte mich plötzlich wieder an meinen Eröffnungssatz.
    Ich nickte Kamen zu. Kamen erwiderte mein Nicken. Dann betrachtete ich das Publikum und sah, dass es nur aus Menschen bestand. Alle Engel

Weitere Kostenlose Bücher