Wahn
Pfeiffer noch körperlich, ohne dass sich irgendwelche Einschränkungen gefunden hätten. Wir vereinbarten für den übernächsten Tag einen Termin in unserer Radiologie zum MRT, und ich verabschiedete die Patientin.
Zwei Tage später wurden die MRT-Aufnahmen von Hannah Pfeiffer bei unserer gemeinsamen Besprechung mit den Radiologen präsentiert.
»Wir sehen hier das normale MRT einer zweiundvierzigjährigen Patientin«, sagte der Neuroradiologe monoton.
»Die Patientin hat eine angeborene Prosopagnosie; mich interessieren vor allem Veränderungen an der Basis des Temporallappens, in der Nähe der Sehrinde und des Gyrus fusiformis«, bemerkte ich.
»Kann mal einer erklären, was eine Prosopagnosie ist?«, fragte ein Neurochirurg aus dem Hintergrund.
Nachdem wir das allen erklärt hatten, sagte der Neuroradiologe: »Auch in den Spezialprojektionen findet sich ein normaler Schläfenlappen beidseits. Nichts, was auffällig wäre.«
»Aber für mich sieht der rechte Temporallappen kleiner aus. Kann es sein, dass das eine angeborene Anomalie ist?«
Der Kollege lächelte süffisant: »Wie wir alle wissen, ist der Mensch asymmetrisch. Es stimmt zwar, der rechte Lappen ist etwas kleiner als der linke, aber das ist noch normal.«
Ein Neurochirurg stöhnte entnervt auf: »Was ist schon normal heutzutage.«
Ich schaute mir abends die Aufnahmen noch einmal genau an und maß mit einem Spezialprogramm das Volumen beider Temporallappen aus. Das Ergebnis war, dass der Temporallappen rechts um zwanzig Prozent kleiner war als links. Diese Differenz lag zwar noch in der Schwankungsbreite des Normalen, aber ich nahm mir trotzdem vor, diesen Befund Frau Pfeiffer mitzuteilen. Als sie am nächsten Nachmittag zur Besprechung ihres Befundes zur Tür hereinkam, sah sie sehr entspannt aus, die intensive Bestrahlung der Ostseesonne hatte ihre Haut binnen weniger Tage tiefbraun gefärbt.
Erwartungsvoll sah sie mich an. »Nun, haben Sie etwas gefunden?«
»Nein, Ihr Gehirn sieht ganz normal aus. Vielleicht ist der rechte Schläfenlappen etwas kleiner als der linke, aber wir haben das ausführlich diskutiert, und der Radiologe meint, es handelt sich hierbei um eine normale Asymmetrie. Es kann natürlich die Ursache Ihrer Beschwerden sein; ich habe aber nachgeschaut: Über auffällige MRT-Befunde im rechten Schläfenlappen gibt es in Bezug auf die Prosopagnosie keine Berichte in der wissenschaftlichen Literatur. Auf jeden Fall haben Sie keine Zyste, keinen Tumor und keinen sonstigen Hirndefekt.«
»Da bin ich ja beruhigt. Man sagt immer, wenn der Arzt keine Ursache einer Krankheit findet, dann kann man auch beruhigt sein, denn wirklich schlimme Dinge würden schnell entdeckt. Aber was soll ich Ihrer Meinung nach jetzt tun?«
Sie sah mich erwartungsvoll an, als müsste ich in meine Schublade greifen, um ihr eine Packung Pillen gegen Gesichtsblindheit zuzuschieben.
»Leben Sie so weiter wie bisher. Sie haben trotz dieser Einschränkung Ihr Leben gut gemeistert. Immerhin sind Sie Professorin, und auch noch für Medien, wo sie viel mit Menschen zu tun haben. Das ist doch eine tolle Leistung. Ein Tipp: Gehen Sie offensiv mit Ihrer Schwäche um, erzählen Sie in Ihrer Umgebung davon. Und wenn Sie das nächste Mal einen Flirtpartner verlassen, um Wein zu holen wie in der Kunstgalerie, dann merken Sie sich ganz bewusst, wo er gestanden hat, oder hinterlassen Sie eine Markierung, indem Sie ihm z.B. eine gelbe Serviette an sein Revers heften.« Sie bedankte sich bei mir. Sie schien nicht enttäuscht, dass ich ihr keinen »medizinischeren« Rat geben konnte. Es schien ihr schon geholfen zu haben, dass sie einmal ausführlich über ihre Krankheit sprechen konnte. Und ihr Freund konnte ihr nicht mehr vorwerfen, zu sorglos zu sein.
Als es ruhiger wurde in der Klinik und wahrscheinlich die meisten Mitarbeiter die spätabendliche Sommersonne am Strand genossen, informierte ich mich in diversen wissenschaftlichen Suchmaschinen noch ausführlicher über das Krankheitsbild der Prosopagnosie. Als Folge einer Hirnschädigung, zum Beispiel durch Verletzung oder Schlaganfall, war es bereits länger bekannt, in den letzten Jahren hat sich die medizinische Forschung auch sehr intensiv mit der angeborenen Form der Gesichtsblindheit beschäftigt, wie ich sie bei Hannah Pfeiffer vermutete.
Was mir bis dahin nicht bekannt gewesen war, ist die Tatsache, dass die angeborene Form der Gesichtsblindheit in der Bevölkerung relativ häufig auftritt: Es sollen bis zu
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