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Wahn

Wahn

Titel: Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christof Kessler
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Es ist zu einem ›Frontalhirnsyndrom‹ gekommen. Je nachdem, ob die unteren oder oberen Anteile des Frontalhirnlappens in Mitleidenschaft gezogen sind, können die Betroffenen apathisch und völlig lethargisch werden, oder, wie bei Ihrem Mann, antriebsgesteigert und enthemmt. Diese enthemmte Form des Frontalhirnsyndroms wird in der Medizinersprache ›Disinhibitorisches Syndrom‹ genannt, also eine psychische Störung, bei der die Hemmung unangepasster Verhaltensweisen fehlt. Die Symptome dieses Syndroms haben Sie bitter genug am eigenen Leibe erfahren: Verminderung sozialer Einsicht, Triebenthemmung, emotionale Labilität und Einschränkung der Urteilsfähigkeit.«
    »Dann ist mein Mann für seine schreckliche Verwandlung nicht direkt verantwortlich?«, fragte Agnes Michalek.
    »Wenn Sie es genau nehmen, nein. Seine Verhaltensweisen waren Krankheitssymptome. Gott sei Dank hat er jetzt den epileptischen Anfall bekommen, so dass wir uns veranlasst gesehen haben, die Computertomographie durchzuführen.«
    Hans Michalek wurde kurz nach seiner Aufnahme in der Neurologie in der Neurochirurgischen Abteilung unseres Klinikums operiert. Er hat den Eingriff gut überstanden. Nach einem Rehabilitationsaufenthalt klagte er nur noch über geringe Konzentrationsstörungen und Vergesslichkeit. Ein halbes Jahr später übernahm er die Leitung einer privaten Stiftung, die die Förderung von Kindern aus sozial schwachen Familien zum Ziel hatte.

NIKOTIN
    Hans-Friedrich Elmskötter war ein guter Bekannter von mir, den ich häufig und gerne bei Geburtstagen, Sommerfesten oder ganz spontan auf ein Glas Wein traf. Die Gespräche mit ihm und seiner Frau, einer attraktiven Archivarin, waren stets unterhaltsam und amüsant. Es passierte oft, dass wir auf der Terrasse des großen Elmskötterschen Hauses saßen und plötzlich feststellten, dass es schon längst weit nach Mitternacht war und wir bei angeregten Gesprächen ganz und gar die Zeit vergessen hatten. Hans-Friedrich hatte eine der großen Rechtsanwaltskanzleien in unserem Universitätsstädtchen. Er war überaus beliebt und kannte alle, die etwas zu sagen hatten. Wenn einer der vielen Professoren unserer Universität ein Rechtsproblem hatte, vom Strafzettel bis zur Scheidung, ging er zu Elmskötter, denn von ihm wurde er kompetent beraten, und meist ging die Sache günstig für ihn aus.
    In meinen Augen hatte Hans-Friedrich Elmskötter allerdings einen großen Makel: Er war Kettenraucher.
    Er rauchte allen Warnungen seiner Arzt-Freunde zum Trotz unentwegt eine Zigarette nach der anderen. Noch vor ein paar Jahren, bevor der Nichtraucher-Schutz gesetzlich verankert wurde, fiel diese exzessive Sucht gar nicht groß auf. Damals durfte ja in jedem Lokal und an jedem Arbeitsplatz nach Belieben geraucht werden. Es wurde wie selbstverständlich beim Essen, ob daheim oder auswärts, zwischen jedem Gang eine Zigarette angezündet. Bei Partys und Gesellschaften hieß es unverblümt: »Feuer frei«, häufig wurde so heftig gequalmt, dass man die Hand vor den eigenen Augen nicht mehr sehen konnte, und am nächsten Morgen musste die Kleidung erst einmal zum Lüften auf den Balkon gehängt werden.
    Die Konsequenz der neuen Nichtraucherschutz-Gesetzgebung war, dass Hans-Friedrich Elmskötter ständig ein Gespräch oder ein Essen unterbrach, sich entschuldigte und vor die Tür eilte, um zu rauchen. Weder Regen noch Minusgrade konnten ihn davon abhalten.
    Iris, seiner Frau, machte sein Suchtverhalten nichts aus. Im Gegenteil. Sie begleitete ihn im Durchschnitt bei jeder dritten Zigarette nach draußen, um mitzurauchen.
    Bei einem Besuch in meiner Klinik schaute er sich als Erstes nach einem geeigneten Aschenbecher um. Zur Not nahm er auch schon einmal einen Teller des Kaffeegeschirrs als Ersatz. Vorhaltungen, dass es seit geraumer Zeit gesetzlich verboten war, in öffentlichen Gebäuden zu rauchen, wischte er mit einer Handbewegung weg: »Du bist mein Nervenarzt, und während einer Therapiestunde gelten andere Gesetze. Außerdem haue ich dich da raus, wenn du Schwierigkeiten bekommen solltest. Immerhin bin ich ja Jurist.«
    Wenn er nach einiger Zeit mein Zimmer verlassen hatte, glimmten regelmäßig mehrere halb ausgedrückte Kippen auf dem Tellerchen und wurden von meiner Sekretärin entsorgt.
    Hans-Friedrich hatte als humorvoller Mensch immer ein Gespür für Situationskomik und konnte sich über einen guten Scherz herzhaft amüsieren. Aber statt eines Lachens hörte man oft lediglich ein

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