Wahn
Umstand ansprach.
Einmal traf ich ihn kurz vor einer Aufführung auf den Stufen vor dem Stadttheater mitten im Schneegestöber, wo er noch schnell eine Zigarette rauchte. Als er mich kommen sah, drückte er verlegen die Zigarette in dem dafür vorgesehenen Behälter aus. Dann aber wendete er sich mit einem aggressiven Ausdruck im Gesicht abrupt mir zu, gerade so, als sei ich sein schlimmster Feind. Er sagte wutentbrannt: »Weißt du was? Du kotzt mich nur noch an. Immer bist du hinter mir her und kontrollierst, ob ich rauche oder nicht. Stets machst du mir ein schlechtes Gewissen. Macht dir deine penetrante Besserwisserei und Moralisiererei eigentlich Spaß? Du bist genau so ein verdammter Kontrolleur wie mein Vater. Der hat mir auch alles verbieten wollen. Alles was Spaß machte, hat er mir miesgemacht. Als ich zwanzig war, habe ich mich von meinem Vater erfolgreich befreien können!« Er tippte mir heftig mit seinem Zeigefinger auf die Brust: »Dich werde ich auch noch los, das kannst du mir glauben.« Dann drehte er sich um und stapfte in das Theatergebäude, um mich völlig perplex zurückzulassen. »Das wird sich schon wieder einrenken«, dachte ich bei mir und hoffte, dass es nur eine vorübergehende Aufwallung gewesen war. Einige Tage später traf ich einen Bekannten in der Stadt und wechselte mit ihm ein paar Worte. »Wir sehen uns ja am Wochenende auf der Party bei den Elmskötters,« sagte er zum Abschied.
»Party?« fragte ich irritiert. »Wir sind nicht eingeladen.«
»Na das kommt noch, hat Hans-Friedrich bestimmt vergessen, ihr beide seid ja gut befreundet.«
»Gewesen«, dachte ich bedauernd. Was war geschehen? Offensichtlich hatten meine stetigen Ermahnungen mit der Zeit das Gegenteil von dem bewirkt, was sie hätten bezwecken sollen. Hans-Friedrich hatte gelernt, mich und nicht das Zigarettenrauchen abzulehnen.
Das erinnerte mich an eine Geschichte aus meiner Studentenzeit. Ich wohnte damals in einer Wohngemeinschaft mit zwei weiteren Mitstudenten; Heribert Kneissel studierte Betriebswirtschaft und war ein lebensfroher und angenehmer Mitbewohner. Allerdings war er ziemlich übergewichtig. Die Ursache war offensichtlich: Zu jeder Tages- und Nachtzeit war er in der Küche anzutreffen und schmierte sich entweder dicke Stullen mit Nutella oder schnitt sich große Stücke Käse ab, die er sich zwischen den Mahlzeiten einverleibte. Michael, ein weiterer Mitbewohner, war Psychologiestudent und besuchte aktuell ein Seminar über Verhaltenstherapie. »Ich werde Kneissel von seiner Fresssucht heilen«, vertraute er mir eines Tages an. »Warte nur ab, morgen fängt die Therapie an. Es handelt sich um eine verhaltenstherapeutische Kurzintervention.«
Am drauffolgenden Tag saß Heribert Kneissel wie immer in der Küche, las Zeitung und biss beherzt in ein Salamibrötchen. In dem Moment wurde die Tür aufgerissen, und Michael stürzte herein. In der Hand hielt er eine Plastikspritzflasche, wie sie in Labors verwendet wurde. Seine Augen flackerten fanatisch, als er laut rief: »Jetzt ist Schluss mit der Fresserei. Es schmeckt alles eklig und stinkt.« Er öffnete die Kühlschranktür und spritzte eine übelriechende Flüssigkeit, Buttersäure, über die dort lagernden Lebensmittel. Dann entwand er Kneissel das Brötchen, in das dieser gerade beißen wollte, legte es mit angewidertem Gesicht auf den Tisch und spritzte auch darüber die stinkende Buttersäure. »Das sind eklige Dickmacher, die machen dich fertig, guck mal, wie sie stinken. Kein Wunder, dass du keine Freundin bekommst, wenn du so ein stinkendes Zeug frisst.« Die ganze Küche war von dem widerlichen Buttersäuregestank erfüllt. Ich öffnete schnell die Fenster und sah dabei Kneissel wie erstarrt mit offenem Mund auf den entfesselten Mitbewohner starren. Diese gut gemeinte Aktion hatte allerdings den gegenteiligen Effekt. Heribert Kneissel schaufelte weiterhin das Essen zu jeder Tages- und Nachtzeit in sich hinein, aber er entwickelte eine schwere Aversion gegenüber Michael. Offensichtlich stieg in ihm immer dann, wenn Michael den Raum betrat, ein ekliger Buttersäuregeruch in die Nase, so dass er mit der Zeit Michael nicht mehr in seiner Nähe ertragen konnte. In Folge hatte er nur noch sarkastische und verächtliche Bemerkungen für ihn übrig. Damit war der Friede in der WG dahin, und bald zog Michael in ein anderes Studentenzimmer.
Ist in meiner Beziehung zu Hans-Friedrich etwas Vergleichbares geschehen? Hat ihn mein ständig moralisch
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