Wahn
erhobener Zeigefinger derart gegen mich aufgebracht? Nicht der Nikotinkonsum, sondern der Mahner wurde als bedrohlich empfunden. Diese Aversion hatte zur Folge, dass Hans-Friedrich zu meinem Bedauern gänzlich den Kontakt zu mir abgebrochen hat. Einige Wochen später kam es zu einem Wiedersehen. Der Präsident unseres Tennisklubs feierte in unserem Klubhaus seinen sechzigsten Geburtstag. Als ich an der Bar den Ansprachen der Laudatoren lauschte, ging die Tür auf und Hans-Friedrich trat strahlend in den Raum. »Wo ist das Geburtstagskind? Ich muss ihm gratulieren.« Dabei hielt er eine Flasche Moët-Champagner in die Luft. Er stolzierte durch den Raum und rief: »Hallo Geburtstagskind, hier ist dein Rechtsverdreher!« Die Anwesenden lachten und prosteten ihm zu. Sobald er jedoch mich an der Bar stehen sah, zuckte er zusammen und lief rot an. »Hallo Hans-Friedrich«, sagte ich, »wir haben uns lange nicht mehr gesehen.« Hans-Friedrich sah mich entgeistert an und begann zu husten. Mit würgenden Geräuschen taumelte er wie ein Ertrinkender zur Toilettentür und riegelte hinter sich zu. Ich behielt die Tür im Auge. Nach noch nicht einmal fünf Minuten verließ Hans-Friedrich die Toilette und ging an mir vorbei, als sei ich Luft. In seiner gewohnt theatralischen Art breitete er die Arme aus und rief in den Saal: »Wo ist der Jubilar? Ich muss ihm gratulieren.«
Fast ein Jahr lang herrschte absolute Funkstille zwischen Hans-Friedrich und mir. Es war wieder an einem Freitag, als mich der diensthabende Oberarzt unserer Klinik anrief, um mir mitzuteilen, dass Herr Hans-Friedrich Elmskötter gerade in unsere Notaufnahme eingeliefert worden war. Ich fuhr sofort in die Klinik und sah auf der Bank vor unserer Schlaganfallstation seine Frau Iris sitzen. Sie berichtete, dass sie gestern noch einen ganz normalen Abend verbracht hätten, bei einem Glas Wein und etwas Fernsehen. Hans-Friedrich sei gut gelaunt und leutselig gewesen. Beim Frühstück habe sie gemerkt, wie sich sein Gesicht plötzlich verzogen habe. Auf ihr besorgtes Nachfragen habe er sie nur starr angeschaut und kein Wort herausgebracht. Dann sei er in sich zusammengesackt und sie habe sofort den Notarzt gerufen. »Erst vor einem Jahr der Herzinfarkt und jetzt das. Ein Schlaganfall, habe ich gleich gedacht.«
Hans-Friedrich lag auf der Untersuchungsliege, er hatte rechtsseitig eine ausgeprägte Gesichtslähmung und konnte seinen rechten Arm nicht bewegen. Er war wach, schaute mich mit großen Augen an, konnte aber nicht sprechen. Auch schien er das, was ich sagte, nicht zu verstehen. Zum Beispiel kam er der Aufforderung, die Augen zu schließen, nicht nach. Es bestanden die Symptome eines Schlaganfalls im Bereich der linken Hirnhälfte. Dort ist beim Rechtshänder das Sprachzentrum lokalisiert, und dieses war bei Hans-Friedrich im Moment durch die fehlende Blutzufuhr völlig außer Funktion gesetzt.
»Wann hast du ihn das letzte Mal gesund gesehen?«, fragte ich Iris.
»Das ist noch nicht einmal zwei Stunden her«, war die Antwort.
Der zuständige Oberarzt hatte schon alles Nötige veranlasst. Nach einer Notfall-Computertomographie wurde eine intraarterielle Lyse durchgeführt. Die funktioniert beim Schlaganfall ähnlich wie beim Herzinfarkt. Der Arzt erreicht mit einem langen Katheter von der Leistenbeuge aus im Gehirn die durch ein Gerinnsel verstopfte Arterie und spritzt ein Medikament ein, welches das Gerinnsel auflöst und dafür sorgt, dass wieder Blut an die unterversorgten Hirnteile gelangt. Diese Prozedur ist allerdings nur dann möglich, wenn der Patient sehr schnell nach Beginn der Symptomatik in einer spezialisierten Klinik aufgenommen wird. Bei Hans-Friedrich hatte diese Prozedur eine prompte Wirkung – noch auf dem Behandlungstisch sagte er zur Verblüffung aller Umstehenden: »Vielen Dank, meine Herren, ich glaube, ich kann wieder reden.«
Kurze Zeit nach der Lyse-Behandlung wurde Hans-Friedrich auf die Schlaganfallstation, die »Stroke Unit«, unserer Klinik verlegt. Die weiteren Untersuchungen ergaben, dass sich nach und nach auch die Gesichtslähmung und die Schwäche des rechten Armes zurückgebildet hatten. Bald war nur noch eine Störung der feinen Fingergeschicklichkeit nachweisbar.
Bei unserer morgendlichen Konferenz wurden uns Hans-Friedrichs Röntgenbilder demonstriert. Der Kollege zeigte erst einmal die ausgedehnten Anteile der linken Hirnhälfte, die wegen des Verschlusses der mittleren Hirnarterie von der Blutzufuhr unterbrochen
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