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Wahnsinn Amerika: Innenansichten einer Weltmacht (German Edition)

Wahnsinn Amerika: Innenansichten einer Weltmacht (German Edition)

Titel: Wahnsinn Amerika: Innenansichten einer Weltmacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Scherer
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zusammen und spricht nur mühsam.
    »Mein Arbeitgeber bezahlt mir keine Krankenversicherung mehr«, nuschelt er. »Und selbst wenn ich noch eine hätte, würde sie keine Zahnbehandlung abdecken.«
    Um seinen Schmerz zu lindern, benutzt er Allzweck-Betäubungssalbe aus dem Supermarkt. Für viele in Amerikas Unterschicht ein geschätztes Wundermittel – obwohl es auf Dauer weder hilft noch heilt.
    Was er sich vom nächsten Tag erhoffe, frage ich ihn.
    »Dass ich hier die kranken Zähne loswerde«, sagt er, »zumindest die, die wehtun.«
    Wie viele sind das?
    »Einige. Am besten gleich auch alle, die mir später wehtun könnten.«
    Drinnen werden derweil Stromkabel gezogen, Computer vernetzt, Wasserschläuche an Dutzende Zahnarztsesseln angeschlossen. Nach Mitternacht kommen die ersten Zubringerbusse von umliegenden Sammelpunkten an. Der Parkplatz füllt sich wie zu einer Großkundgebung. Männer, Frauen, Kinder rücken in der Dunkelheit zusammen. Die meisten sind unauffällige Durchschnittsbürger.
    Was sie drücke, fragen wir reihum.
    »Zahnschmerzen«, ist ihre häufigste Antwort.
    Die sich hier versammeln, sind zu jung für die staatliche Altersversorgung »Medicare«, noch nicht verarmt genug für die Wohlfahrtskasse »Medicaid« und noch zu gesund für die Notaufnahme einer Klinik. Das Heer der solcherart Unversicherten stieg in den USA zuletzt auf annähernd 50 Millionen.
    »Für jemanden, der den Mund voller kranker Zähne hat oder dessen Augen zu schlecht sind, um noch einen Job zu bekommen«, erklärt uns Brock, »für den ist das eine Katastrophe. Diese Leute brauchen keine Hurrikan-Katastrophen wie ›Katrina‹, um Not zu leiden.«
    Für jeden hier hat er ein offenes Ohr, erklärt die Regeln, mahnt schon jetzt, die Gelegenheit zu nutzen, sich auch den Blutdruck messen zu lassen, mit einem Allgemeinarzt zu reden, über eine Mammografie nachzudenken. Medizin sei auch Vorsorge.
    Die Menschen sind müde, aber gelassen. Wir blicken auf Armut, nicht auf Elend. Alltägliche Armut – im reichsten Land und in der größten Volkswirtschaft der Welt.
    Reinigen, plombieren, ziehen
     
    Sechs Uhr früh. Brock ruft die Startnummern auf. »Patientin Nummer eins«, begrüßt er die Frau gleich neben der Eingangstür. »Sie waren ja schon gestern Mittag hier.« Die Menge klatscht.
    »Danke«, ruft sie Brock zu, »Sie sind ja meine einzige Chance. Die wollte ich nicht verpassen.«
    Im Eingangsflur reihen sich provisorische Anmeldeschalter auf. Brian gibt seine Daten zu Protokoll. Danach geht er zum Sehtest. In Nebenräumen sammeln sich die Mediziner und warten auf den Schichtbeginn. Der Älteste unter ihnen ist Howard Teitelbaum, Professor für Präventivmedizin, mit Arztlizenz für Tennessee, Michigan, New York und Iowa. »Die Einsicht unter den Politikern wächst, dass eine breitere Versorgung der Bevölkerung nötig ist«, glaubt er. »Umso mehr, weil viele Menschen arbeitslos geworden sind und damit auch ihre Krankenversicherung verloren haben.«
    Brian und Vickie haben zwischen Hunderten von Leidensgenossen in der Wartezone Platz genommen. Was unsere Kamera abschwenkt, ist grotesk: Die Hälfte der Sporthalle samt der Tribünen hält volle Sitzreihen bereit, als beginne gleich eine Bürgerversammlung oder ein Konzert. Nur unterscheiden die Platzanweiser nicht nach Parkett, Rang und Balkon, sondert nach den Kategorien »Reinigen«, »Plombieren« und »Ziehen«. Bei »Ziehen« herrscht der größte Andrang.
    In der zweiten Hallenhälfte drängen sich die Behandlungssessel, umstellt von weiß und grün bekitteltem Personal. Kopfleuchten strahlen in aufgerissene Münder, Spritzen leeren sich, silbern glitzernde Zangen packen zu, Blut fließt in Wattetupfer.
    Manche Ärzte, wie Jim Jenkins, unterstützen die Hilfsorganisation seit vielen Jahren – und erfahren dennoch immer wieder Neues. »Ich habe einer Frau gerade 16 Zähne gezogen«, sagt er uns fassungslos in seiner Pause. »Sie hatte die Spitze eines Drahtkleiderbügels über einer Kerze zum Glühen gebracht und sich damit selbst die Nerven abgetötet. Natürlich hatte sie weiter Infektionen, aber sie hatte den Schmerz gestoppt, wenigstens vorübergehend.« In seiner ganzen Berufslaufbahn habe er so etwas noch nicht erlebt. »Nun malen Sie sich einmal den Leidensdruck aus«, sagt er, »der jemanden zu so etwas treibt.«
    Auch Brian gesteht seinem Behandler, dass er schon erfinderisch war, und zeigt auf den Stummel eines vergilbten Schneidezahns. Den habe er sich

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