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Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Titel: Wahnsinn, der das Herz zerfrisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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hinüberzuwandern und sich mit dem Fasanenjäger anzufreunden.
    Doch die Freundschaft währte nicht lange. Schon Anfang April erhielt Augusta einen Brief, in dem von einem heftigen Streit die Rede war: »Ich bin nicht wieder versöhnt mit Lord Grey, und ich werde es nie sein. Er war einmal mein bester Freund, meine Gründe dafür, diese Freundschaft abzubrechen, sind solcher Art, daß ich sie nicht erklären kann, selbst Dir nicht, meine liebe Schwester (obwohl Du die erste wärest, der ich sie bekennen würde, wenn ich es könnte)… Meine Mutter billigt meinen Streit mit ihm nicht, aber wenn sie den Grund wüßte (den sie nie erfahren wird), würde sie mich nicht mehr plagen.«
    Augusta wunderte sich, sagte aber nichts. Und bald hatte Byron an der ganzen Angelegenheit jedes Interesse verloren, denn er hatte sich zum ersten Mal wirklich heftig verliebt. Daß Mary Chaworth verlobt und zwei Jahre älter als er selbst war, verdrängte er. Schließlich war sie allein durch ihre Herkunft für ihn bestimmt. Die Byrons heirateten so gut wie immer ihre Cousinen, und Mary Chaworth war - wie seine drei vorhergehenden Schwärmereien - mit ihm verwandt.
    Dazu kam ein höchst romantischer und inspirierender Umstand: sein Vorgänger, der böse Lord, hatte Marys Großvater hinterrücks umgebracht und bis zu seinem Lebensende das Schwert, mit dem die blutige Tat begangen worden war, an dem Ehrenplatz von Newstead Abbey hängen lassen. Verständlicherweise hatten sich daraufhin die beiden Familien etwas entfremdet. Da sich das rattenzüchtende Ekel in seinen letzten Jahren aber auch mit den eigenen, engsten Verwandten völlig zerstritten hatte, sahen die Chaworths keinen Grund mehr, sich nicht mit dem neuen Herrn von Newstead Abbey zu versöhnen.
    Mary beobachtete den jungen Verliebten mit Belustigung. Zugegeben, er sah sehr gut aus, er war auch unterhaltsam und ihr offensichtlich völlig ergeben - aber ein ernst zu nehmender Verehrer? Wohl kaum. Hin und wieder brachte er sie allerdings in Verwirrung. Sie schenkte ihm ihr Bild, um herauszufinden, wie sie bei diesem Kind stand. Das Ergebnis war überwältigend.
    Byron weigerte sich gegen Ende der Ferien, nach Harrow zurückzukehren, um bei seiner Angebeteten bleiben zu können.
    Alle Wutanfälle Catherines, alles wohlmeinende Zureden des Anwalts Hanson nützte nichts. Er wollte in Annesley Hall ausharren, wo ihn ein Blick, ein Lächeln von Mary glücklich oder unglücklich machen konnte. Mary empfand unerwartetes Vergnügen bei seinen leidenschaftlichen Liebesanträgen, Vergnügen, das durch die prickelnde Verbindung zwischen keuscher Reinheit und leichtsinniger Koketterie, die er ihr ermöglichte, entstand. Schließlich war er ja nur ein Kind!
    Byron war nicht ganz so unschuldig, wie Mary Chaworth glaubte. Seinerzeit, als er noch mit seiner Mutter in Aberdeen lebte, hatte ihn das schottische Hausmädchen abwechselnd mit Bibelsprüchen und von Stimmung und Alkohol ausgelösten merkwürdigen Zärtlichkeiten bedacht. Damals konnte er nichts damit anfangen, jetzt aber stieg die Erinnerung in ihm auf, war ihm abwechselnd peinlich und dann wieder seltsam angenehm.
    Er wußte ziemlich genau, was er von Mary wollte. Doch er fühlte in ihrer Gegenwart eine viel zu große Scheu, um jemals einen eindeutigen Schritt zu wagen.
    Eines Abends beschloß Byron, sie zu überraschen und durch ihr Fenster einzudringen. Dank seiner Gelenkigkeit hatte er das Fensterbrett ziemlich schnell erreicht. Noch bevor er in Marys Zimmer sehen konnte, hörte er ihre Stimme, hörte sie lachend zu irgend jemandem sagen: »Was, ich soll mir aus dem lahmen Jungen etwas machen?« Er ließ sich fallen. Marys Zimmer lag nicht sehr hoch, aber der Aufprall war doch recht schmerzhaft und lenkte ihn einige Augenblicke lang von dem dumpfen Pochen in seinem Inneren ab. Der lahme Junge. So war das also.
    Ich soll mir aus dem lahmen Jungen etwas machen? So.
    Er lag noch sehr lange unter Marys Fenster und atmete den süßen, durchdringenden Geruch des nächtlichen Gartens ein. Seine Hände klammerten sich an der aufgewühlten Erde unter ihm fest. Am nächsten Tag hatte er hohes Fieber und wünschte sich intensiv zu sterben.
    Er sah sich schon bleich und kalt in einem Sarg liegen, die schluchzende Mary zu seinen Füßen, die ihm alle Liebe der Welt schwor - umsonst. Er war tot. Mary zog sich für den Rest ihres Lebens in ein Kloster zurück und weinte jede Nacht um den Verlorenen, Unwiederbringlichen, den sie so grausam abgewiesen

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