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Wahnsinns Liebe

Wahnsinns Liebe

Titel: Wahnsinns Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Singer
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Sie wollten keinen Geisteskranken in der Schule, das könnte ansteckend sein.«
    Der Feingespritzte wird serviert. »Auf unseren Georgstag«, sagt Gerstl.
    »Schmeckt angenehm spitz«, sagt sie gedankenverloren.
    Er betrachtet sie von der Seite. »Der Feingespritzte schmeckt spitz?«
    Sie schaut wie ertappt. »Ach ja, das ist so eine Angewohnheit von mir …«
    »Und gibt es auch stumpfe Geschmäcker?«
    »Viel zu viele«, sagt sie. »Die meisten galizischen Gerichte, die es bei uns daheim gab, schmecken völlig stumpf. Tscholent, zum Beispiel. Graupen, Kalbsfuß, dicke Bohnen, abgebräunte Zwiebeln, Rindfleisch, Geflügelfett – nichts davon hat die geringsten Spitzen. Aber auch Beuscherl schmeckt stumpf, deswegen braucht es unbedingt einen Schuß Essig. Sogar das beste panierte Kalbsschnitzel wird erst durch die sehr spitze Zitrone vollkommen.«
    Sie trinkt achtsam von ihrem Feingespritzten.
    »Also spitz ist einfach sauer?«
    Mathilde sieht Gerstl an, als wäre er begriffsstutzig. »Natürlich nicht. Spitz ist spitz. Ein scharfer Paprikageschmack, zum Beispiel, ist auch spitz, wenn auch etwas anders geformt. Ich persönlich achte beim Kochen |96| immer drauf, daß ein Gericht etwas Spitzes hat. Aber es gibt Leute, die mögen Gerichte, die sich wie weichgewordene Bälle im Mund anfühlen; ich fand das schon als Kind widerlich.«
    Sie nippt am Glas. »Das hier mag ich. Da habe ich ganz zarte Kristalle auf der Zunge.«
    Gerstl sieht Mathilde zu und schluckt leer. »Diese Vergleiche – denken Sie sich die während des Essens aus, während Sie kauen oder trinken?«
    Wieder bedenkt ihn Mathilde mit dem Blick einer Mutter, deren Kind so gar nichts zu verstehen scheint. »Vergleiche ausdenken? Ich vergleiche da nichts, das ist so. Alles, was ich schmecke,
hat
eine bestimmte Form. Und ich spüre sie nicht nur im Mund. Das ist, als würden mir die Sachen ins Gesicht gerieben, oft streicht es mir sogar die Arme hinunter.«
    Gerstl neigt sich zu ihr, sein Rücken und sein Nacken sind angespannt. »Das ist – das ist ja ganz ähnlich wie bei mir. Bei Ihnen passieren auch zwei Wahrnehmungen gleichzeitig. Deswegen verstehen Sie mich so gut.«
    Mathilde zieht die Brauen hoch. »Ich verstehe vielleicht Ihr Farbenhören, das leuchtet mir ein. Schließlich reden wir ja alle von schreienden Farben, von einem zu lauten Rot, aber …«
    »Aber?« Gerstl weicht von ihr zurück, richtet sich auf und sitzt auf der vordersten Kante seines Stuhls.
    »… aber ich verstehe nicht, wie Sie sich eine Verwandtschaft mit van Gogh anmaßen können. Gut, Sie mögen beide brennen – meinetwegen. Aber brennt nicht jeder Künstler?«
    »Klimt bestimmt nicht, sonst würde ihm der Pinsel aus der Hand fallen bei seiner Ornamentpinslerei. Und Moll? Der ist doch viel zu ausgeglichen. Der ist zwar |97| wärmer als lauwarm, aber glühen? Glühen tut der nie. Dafür wird er bestimmt schön alt.«
    Mathildes Mund ist schmal geworden. »Brennen hin oder her. Haben Sie denn eine Ahnung davon, wie es ist, dauernd bei Freunden und Bekannten betteln zu müssen? Nicht zu wissen, ob man den nächsten Monat noch den Mietzins zahlen kann? Und als jemand, der sich seiner Begabungen dankbar bewußt ist, dauernd gedemütigt zu werden? Wie können Sie als verwöhnter Sohn, der sich neben dem Atelier in der Akademie und dem Zimmer bei den Eltern auch noch eins« – sie spitzt die Lippen – »zu Studierzwecken leistet, sich mit van Gogh als Seelenbruder brüsten?«
    Gerstl verwünscht es, keinen Stift dabeizuhaben, denn jetzt erlebt er wieder, wie diese Frau sich verändern kann. Ihr Blick, ihre Mundbewegungen, ihre Gesten: alles ist ungebärdig wie ein Rudel junger Hunde, das aus dem Zwinger gelassen worden ist.
    »Kennt Ihr Mann Sie so?« fragt er.
    »Was soll das heißen?«
    »Ob er es erlebt, wenn Sie sich zu erkennen geben als das, was Sie eigentlich sind.«
    Mathilde schaut ihn an wie ein Kind, das aus dem Schlaf gerissen wird. »Ach, wer bin ich denn eigentlich? Das weiß ich selber schon gar nicht mehr. Wenn Sie mit einem Genie verheiratet sind, vergessen Sie das ganz schnell. Er braucht mich, er braucht mich als Mittel gegen die Einsamkeit.«
    Es klingt nicht verbittert, nur so, als hätte sie sich damit abgefunden wie etwa mit der Farbe ihrer Augen.
    Beide Gläser sind leer. Die Bedienung baut sich am Tisch auf, ihre korsettgepanzerte Büste dräut ehrfurchtsgebietend und ihre Frage, ob die Herrschaften |98| etwas bestellen wollten, ist als Anweisung zu

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