Wahnsinns Liebe
Tiere, zerschmolz Stein und Metall. Dreißigtausend Tote wurden gezählt. Überlebt hat nur einer, der hinter den dicken Mauern des örtlichen Gefängnisses saß.«
Es ist unerträglich heiß geworden, und Zemlinsky spürt, wie sein Anzug an ihm klebt. Gut, daß Gerstl keine Details malt.
Aber was redet er da? Schlägt ihm die Hitze aufs Hirn? Oder ist er doch krank – ein Irrer, wie Webern behautet? Zemlinsky spürt, daß es ihn ungeheure Kraft kostet, vor diesem Menschen noch ein porträtgeeignetes Gesicht zu wahren.
Gerstl bemerkt davon offenbar nichts. Er haut Farbe auf die Leinwand, rührt in ihr, peinigt sie und redet. »Was wissen Sie über Vulkanismus? Wahrscheinlich nichts. Aber Sie sollten etwas darüber wissen, Zemlinsky, schon Ihrer Schwester zuliebe. Wie kommt der Magmastrom aus den Reservoirs, die kilometertief unter dem Kraterrand liegen, nach oben?«
Er setzt den Pinsel ab und schaut Zemlinsky an. »Na? Nichts? Also: Das aus der Tiefe aufsteigende Gestein enthält Gas, es ist an manchen Stellen richtig schaumig.«
Zemlinsky hebt kurz den Hut vom Kopf, entläßt die darunter angestaute Hitze. »Ich dachte, Sie wollten |149| mir etwas über sich und Ihre Unberechenbarkeit erzählen.«
Gerstl überhört den Einwurf. »Das Eigengewicht des Magmas, das sollte auch jemand wie Sie wissen, läßt diese Schaumgebilde aus unzähligen Blasen gleich nach einem Engpaß jäh zusammenbrechen. Ein Ruck geht durch die Magmasäule. Dieser Stoß setzt sich immer wieder neu als pumpende Bewegung durch die kochende Säule fort. Der Vulkan pulsiert, schaukelt sein heißes Innenleben auf. Dabei entsteht ein tiefes Geräusch – ein warnendes Geräusch, das mit Erdmikrofonen belauscht werden kann. Aber man muß das Geräusch hören wollen …«
Zemlinsky ist schwindlig und übel. Er will nur noch eins: das alles hier abkürzen und den Kerl ausnüchtern. »Was wollen Sie von meiner Schwester? Sie sind ein junger Mann. Sie sehen gut aus. Sie sind begabt. Sie kommen aus einem vermögenden Elternhaus. Was wollen Sie von ihr?«
Gerstl betrachtet mit zusammengekniffenen Augen das Bild.
»Fertig. Es ist mir gelungen. Ich habe Sie von Ihrem Körper befreit.«
»Sehr freundlich«, sagt Zemlinsky und sieht in Gerstls Rücken Mathilde über den Uferweg näherkommen.
»Sagen Sie mir bitte, was Sie von ihr wollen. Sie ist doch viel zu alt für Sie und – ehrlich gesagt – keine besonders reizvolle Erscheinung.«
Gerstl ist dabei, seine Utensilien einzupacken. »Von welcher Frau sprechen Sie?« Gerstl folgt Zemlinskys Blick. Mathilde kommt in einem unförmigen himmelblauen Batistkleid auf sie zugelaufen. Das hochgesteckte Haar hat sich zur Hälfte gelöst. Ihr Gesicht ist von der Sonne nicht braun, sondern zuerst einmal rot geworden. |150| Gerstl sieht ihr entgegen. »Doch nicht etwa der Schönheit, die uns hier besucht.«
Zemlinsky sieht nichts davon. Kann er auch schwerlich, weil er die Augen zumacht. »Gerstl, denken Sie an die Zukunft, ich flehe Sie an« sagt er leise.
»Gern«, grinst Gerstl. »Denn sie wird mit dem Alter immer besser.«
»Wer, sie?« fragt Zemlinsky. »Die Zukunft?«
Aber da ist Mathilde bereits bei ihnen.
Mitten durch den Hals geht der Schnitt. Exakt durch den Kehlkopf.
Er bräuchte den Kopf nur etwas zu heben oder zu senken, um den Schnitt zu verschieben, aber es gefällt ihm, sich so zu sehen in dem gesprungenen Rasierspiegel, der vor ihm auf dem Tisch steht.
Gerstl sitzt mit dem Rücken zur geöffneten Tür und schreibt in ein großes Notizbuch.
Über den Spiegelrand hinweg fällt sein Blick auf die Wand, aber er sieht dahinter die Straße, auf der sie kommen wird.
Den Sommer hören und riechen, ohne ihn zu sehen. In einem engen Zimmer mit kleinen Fensteröffnungen zu sitzen und mit dem ganzen Organismus zu wissen: Es ist Sommer draußen. Alle anderen hier, abgesehen von Mathilde, finden es abartig, daß jemand an einem Tag wie dem heute drinnen hockt, anstatt in einem Boot, einem Biergarten oder auf einer Wiese. Und schauen mitleidig, wenn Gerstl erklärt, er finde nun mal die Ahnung aufregender als das Wissen.
|151| Den unerwarteten Besucher hat er in der Nase, bevor er ihn sieht. Zigarre, Schweinekoben, Hühnerstall und Kölnisch Wasser für besondere Anlässe.
Gerstl dreht sich um.
»Was wollen Sie, Prillinger?«
»Ich will gar nichts.« Der Besitzer der Fera-Mühle steht dampfend mitten in der Stube vom ehemaligen Mühlenhaus, das er als Ferienwohnung möbliert hat. »Von einem
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