Wahnsinns Liebe
wäre die Welt ganz einfach.
Doch Mathilde summt nebenher wieder eines der Kindertotenlieder.
»Hör endlich auf damit«, sagt Schönberg. Und erstarrt plötzlich. »Wo sind eigentlich die Kinder?«
Mathilde schneidet das Brot auf und sagt nebenbei: »Georg schläft – wie du merkst, sehr fest, weil er einen Sommerschnupfen hat. Und Trudi ist im Prater mit den Töchtern und dem Kindermädchen von den Mannheimers.«
Schönbergs Stimme schlingert. »Sind dir deine Kinder neuerdings völlig gleichgültig? Da sitzt du herum und klimperst und summst Kindertotenlieder und weißt nicht mal genau …?«
Mathilde macht, den Brotkorb in der Linken, einen |140| Schritt auf ihn zu und streicht ihm mit der freien Hand über den Kopf. »Ach, mein Guter, ich weiß immer genau, was mit ihnen ist. Aber wie steht es mit dir? Was weißt denn du über die beiden? Wenn du allein mit ihnen wärst – könntest du sie überhaupt anziehen? Wüßtest du, wie du Trudi den Bauch streicheln mußt, wenn er weht tut, und welches Lied Georg tröstet, wenn er sich den Kopf angeschlagen hat? Kannst du ihnen den Hintern abputzen, Grießbrei kochen und die schlimmen Träume vertreiben?«
Schönberg stopft sich eine halbe Scheibe Brot in den Mund und geht aus der Küche.
Sie sitzen am Tisch. Da klopft es an die Wohnungstür.
»Du hast also doch jemanden erwartet«, sagt Schönberg. »Jetzt wird es spannend. Ich öffne.« Schnell geht er zur Tür.
Seine Stimme klingt beinahe enttäuscht: »Alex? Was ist los?« hört Mathilde ihn draußen sagen.
Schon ist ihr Bruder im Zimmer. Zemlinskys Gesicht ist eingefallen wie bei einem alten Menschen ohne Zähne. »Sie ist tot.« Er wankt. Mathilde schiebt ihm einen Stuhl hin. »Wer ist tot?«
»Die Kleine.«
Mathilde bleibt ruhig. Schönberg schreit: »Welche Kleine?«
»Mahlers Ältere, die Putzi.«
Schönberg nimmt einen mächtigen Löffel Erdäpfelkäse mit Topfen und gibt ihn in sein Bierglas.
»Diphterie«, haspelt Zemlinsky. »Zwei Wochen lang immer weniger Luft. Und das draußen in Maiernigg, wo die Luft so gut ist. Kehlkopfschnitt auf dem Sofa. Vierundzwanzig Stunden später war sie tot.«
|141| »Hast du Hunger?« fragt Mathilde.
Zemlinsky schüttelt den Kopf. Sie nimmt Schönbergs Glas, geht in die Küche, kommt mit zwei vollen Biergläsern, einem Teller und Besteck zurück. Ihr Bruder lädt sich einen Berg Erdäpfelkäse mit Topfen auf und gabelt alles weg, ohne ein Wort zu reden. Dann lehnt er sich erschöpft zurück. »Ich weiß es von ihm. Er ist Hals über Kopf von Maiernigg nach Wien zurück. Der Arzt hat nämlich nicht nur Putzis Tod festgestellt, sondern auch noch einen schweren Herzschaden bei Mahler.«
»Und sie?« fragt Mathilde.
»Sie ist schuld, behauptet er. Sie hätte sich mehr um die Kinder kümmern sollen oder irgend so etwas. Er spricht es nicht direkt aus, aber trotzdem – unmißverständlich. Er ist überzeugt, daß Alma in ihrem Egoismus mehr an sich und ihre eitlen Probleme und ihre aufgegebene Karriere gedacht hat als an …«
Mathilde stellt, so laut es geht, die Teller zusammen. «Selbstverständlich. Frauen von Genies haben niemals an sich selber zu denken.«
Sie steht, als sie das sagt, neben ihrem Mann. Der greift ihr rüde an den Arm. »Woher hast du es gewußt? Wer hat es dir gesagt? Lüg mich nicht an! Du hast es schon gewußt!«
Mathilde und Zemlinsky schauen ihn verstört an. »Was ist denn los?« sagt sie.
»Das ist doch kein Zufall, daß du vorher die Kindertotenlieder gespielt hast.« Schönbergs Augen stehen weiter vor als sonst.
Mathilde zuckt mit den Achseln. »Vielleicht eine Ahnung. Vielleicht auch nicht.« Sie nimmt die Teller |142| und geht zur Tür. Gedankenverloren sagt sie vor sich hin: »Alles spiegelt sich …«
»Ich will keine Frau, die Ahnungen hat«, brüllt Schönberg, »ich will eine ganz normale Frau, verstanden?« Er fällt in sich zusammen. Und dann kommt es tonlos: »Gestern war der dreizehnte Juli.«
Zemlinsky hat seine Zigaretten herausgezogen und fängt an zu rauchen. »Arnold, beruhige dich. Erstens ist das Kind am zwölften gestorben. Am 12. Juli im Jahr 1907 – da findest selbst du keine dreizehn. Und zweitens ist das kein Grund, deine Frau anzubrüllen.«
Schönberg klumpt in seinem Stuhl, verschwitzt und schwer. Seine vollen Lippen hängen schlaff herunter. Er schaut auf seine Hände im Schoß, als rechnete er mit den Fingern. »Nein, nein … die Quersumme … 12 plus 7 plus 7 ist 26 – zweimal
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