Wahr
ihrer Großmutter sprechen. Aus irgendeinem Grund ist es wichtig, nichts von ihrer Krankheit preiszugeben.
»Kann ich mir vorstellen.« Katariina Aavamaa scheint über etwas nachzudenken. »Tim i ¸ s oara.«
»Wie bitte?«
»Die Stadt in Rumänien. Die Frau aus dem Flugzeug hat bestimmt in Tim i ¸ s oara gewohnt.«
»Der Umbruch von 1989, natürlich, das muss es gewesen sein. Ich habe die ganze Zeit gedacht, sie meinte das mit der Revolution in Bezug auf ihre persönliche Biografie. Schade, das verdirbt meine schöne Geschichte.«
Katariina Aavamaa lächelt. »Oder auch nicht. Was wissen wir schon von ihr? Vielleicht wollte sie die Möglichkeit zur lebenslangen Veränderung für sich aufrechterhalten, indem sie an diesen geschichtsträchtigen Ort gezogen ist. Ich weiß noch, wie ich das Treiben damals im Fernsehen verfolgt habe. Im Grunde trieben ja die Medien den Umsturz voran; die Leute haben ausländische Kanäle geguckt und ihre Chance erkannt. Klar war ich für den Umsturz, das Regime war reinste Tyrannei. Aber eine Zeitlang habe ich an die Prinzipien des Sozialismus geglaubt. Als dann der ganze Osten zusammenbrach, fand ich es schon zynisch, dass ausgerechnet das Fernsehen diesen Prozess angeschoben hat. Sie sollten bei Ihrer ursprünglichen Geschichte bleiben, die ist schöner. Außerdem erzählt sie auch etwas über Sie.«
Geschichten. Anna will bei ihrer Geschichte bleiben. Deshalb fragt sie nicht, was mit Eeva passiert ist und wie sie letztendlich starb.
Draußen schlägt ihr die Hitze wie eine Wand entgegen. Der Sommer weiß nichts von der Frau, die das neue Jahrzehnt nicht mehr miterlebte, er bietet nur seine Blüten an, den Himmel, den Wind, als gäbe es die Vergangenheit nicht.
Anna spaziert ans Meer, streicht mit dem Fuß über die Hügelchen des Kopfsteinpflasters, geht ganz nah ans Wasser. Aus einer Eingebung heraus marschiert sie weiter zur nächsten Tankstelle, betritt den Verkaufsraum. Als Kind hat sie Tankstellen geliebt, die Spannung an diesem Ort, die Atmosphäre von Ankunft und Aufbruch. Regelmäßig versuchte sie ihren Vater zu einer Tankstellentour zu überreden, zog die Gummistiefel über und rannte zum Auto. Sie wollte die dudelnde Musik der Spielautomaten hören, sich ein Eis aus der bunten Gefriertruhe aussuchen. All das ist noch da. Einige Leute sind unterwegs zu ihren Sommerhäusern, mit Milch, Lauchzwiebeln und neuen Kartoffeln im Gepäck. Die Optimisten haben eine Luftmatratze und Badespielzeug dabei, die Realisten Krocketschläger. Die Wirklichkeit einer Tankstelle ist vollkommen anders als die eines Krankenhauses. Kaum vorstellbar, dass zwei Realitäten so weit voneinander entfernt sein können und doch in eine einzige Welt gehören. Hier sehen die Menschen entweder glücklich oder einfach alltäglich aus, niemand wirkt, als wolle er am liebsten der Realität entfliehen. Jedenfalls nicht heute.
Anna bestellt einen Kaffee. Die rothaarige Bedienung tippt feierlich den Preis ein, als wäre die Kasse ein Flügel, dem sie eine bedeutsame, weltumfassende Melodie entlockt.
Dann setzt sich Anna an einen Ecktisch, lädt ihre Phantasien zu sich ein.
Eeva hoffte, dass sich alles noch ändern konnte. Aber nachdem bereits der Mann durch ihre Tür gegangen war, musste sie auch dem Mädchen Lebewohl sagen. Eeva belog Ella, sagte »Bis morgen«. Sie sagte es, obwohl sie wusste, dass es dieses Morgen nicht geben würde. Die Wahrheit zu sagen brachte sie einfach nicht fertig. Ein Jahr lang war ihr Herz wie ausgehöhlt von dieser Lüge.
Trotzdem wollte Eeva die Welt sehen, und das tat sie. Doch dann geschah etwas, das sie vernichtete. Vielleicht war der Auslöser nur eine Kleinigkeit, die auf einer Reise wie nebenbei passieren konnte. Aber Eeva nahm sie als ein Zeichen dafür, dass sie nicht in diese Welt gehörte, dass die Wirklichkeit ihr fremd geworden war.
Anna denkt an Ella. Sie wagt es sogar, an Linda zu denken. Bis morgen. Dann schaut sie auf ihr Handy, eher aus Versehen oder aus Reflex, und registriert die entgangenen Anrufe. Der Gedanke ist nur eine Ahnung.
22.
ALLES BEGANN MIT einem harmlosen Telefonat. Eleonoora wollte gerade ihren Spind abschließen, hatte den Kittel auf den Bügel gehängt, war aus den weiten Hosen und der Bluse geschlüpft. Sie hatte einen Spaziergang am Meer im Sinn, wo heute die Möwen im Wind segeln würden wie wehende Fahnen. Aber dann klingelte das Telefon. Ihr erster Gedanke war: Mama.
Doch der Anrufer war unbekannt, sie meldete sich gereizter
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