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Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
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aus. Zum ersten Mal hat Anna das deutliche Gefühl, ohne eine Geschichte dazustehen. Sie versucht nicht mehr, sich die Klugheit oder Sehnsucht dieser Frau vorzustellen. Und dann diese Annahme, Katariina Aavamaa sei spießig und diszipliniert. Vielleicht lag sie auch mit allem anderen falsch. Katariina Aavamaa gehört zu den Menschen, die ihre Geschichte selbst erzählen.
    Ihr scheint etwas lang Vergessenes einzufallen, ihr Blick hellt sich auf: »Deine Mutter! Wie geht es ihr eigentlich?«
    »Sie ist Ärztin.« Anna denkt, eigentlich hätte ich auch antworten können: Sie ist glücklich.
    »Ich habe sie damals öfter gesehen. Da war sie vier oder fünf Jahre alt, so ein süßes Mädchen. Ärztin also, schau mal an.«
    Auf den meisten Fotos ist Katariina Aavamaa zu sehen, Eeva nur manchmal. »Was waren wir kindisch! Eigentlich ging es uns bloß um unseren Spaß, ums Feiern. Aber wir mussten das unbedingt Revolution nennen. Heute denke ich, dass Umstürze am allerbesten dort gelingen, wo sich die Welt gar nicht einmischen kann. Im Film, auf der Bühne.« Sie lacht wieder. »Naja, man muss gnädig mit sich sein. Ohne verrückte Mädchen, wie wir es waren, würde alles gleich bleiben. Ohne Menschen, die von etwas Neuem träumen, gäbe es keine Veränderung. Trotzdem glaube ich inzwischen, dass es für wirkliche Umwälzungen ein ganzes Leben braucht und dass sie sich eher undramatisch vollziehen. Wenn niemand hinsieht.«
    Anna hat keine Erwiderung parat. Was weiß sie schon über Revolutionen? Nur das, was sie in der Schule gelernt hat. Und im Fernsehen ist natürlich immer gerade irgendwo eine Revolution, das ist so sicher wie die x-te Wiederholung von Sex and the City . Anna fällt die Frau ein, neben der sie letzten Herbst im Flugzeug saß, als sie nach Paris flog.
    »Ich habe mal auf einer Reise eine Amerikanerin getroffen. Die hat gesagt, dass die Revolution in einer kleinen rumänischen Stadt zu Hause ist. Dass sie da beginnt. Sie hat in dieser Stadt gewohnt.«
    »Wieso hat sie als Amerikanerin in Rumänien gewohnt?«
    »Ihr Mann war gestorben, und sie wollte endlich etwas von der Welt sehen. Ihrem Mann zuliebe war sie ihr Leben lang in Alabama geblieben.«
    »Was hat sie in Osteuropa gemacht?«
    »Sie ist erst als Wahlbeobachterin nach Bosnien gegangen und später nach Rumänien.«
    »Und wie heißt jetzt diese Stadt?«
    »Das habe ich vergessen.«
    Katariina Aavamaa lacht. »Die Revolution stammt aus einer Stadt, deren Namen niemand weiß.«
    Für ein paar Sekunden sieht Anna die junge Frau, die ihre Wimpern schwarz tuscht und sagt: »So, und nun erobern wir die Welt.«
    Auf den nächsten Fotos ist Eeva in Stockholm, und dann, den kleinen Kanälen nach zu urteilen, in Amsterdam. Sie sitzt in einem Straßencafé, neben ihr ein Mann, eigentlich noch ein Junge.
    »Wer ist das?«, fragt Anna.
    »Eeva kannte ihn irgendwoher, ein paar Tage lang hat sie versucht, an eine Liebe mit ihm zu glauben. Er war uns bis Stockholm entgegengereist.«
    Die nächste Seite zeigt Eeva in einem Gartenlokal auf dem Land, vielleicht irgendwo in Frankreich. Sie sieht mager und erschöpft aus, lächelt dennoch.
    »Ich konnte ihr nicht helfen«, sagt Katariina.
    »Sie werden Ihr Bestes getan haben«, entgegnet Anna.
    Es folgen Bilder aus späteren Jahren, den Siebzigern. Katariina Aavamaa auf dem Kurfürstendamm, dann am Meer, sie schaut geradeaus durch die Kamera und den Fotografen hindurch, hat nichts zu verstecken. Katariina Aavamaa in blauer Bluse zur Maifeier in Helsinki. Und ein paar Jahre später mit neuer modischer Frisur und einem Baby auf dem Arm. Auf jedem Bild sieht sie anders aus. Sie wirkt nicht sonderlich familienfixiert, aber woher will Anna das wissen, außerdem führen unabhängige Menschen oft ein besonders glückliches Familienleben.
    Als Anna schon im Flur steht, fragt sie Katariina, ob sie verheiratet ist. »Ja. Seit fünfunddreißig Jahren mit demselben Mann, ich kann es kaum glauben.« Ihr Ton ist der von lang verheirateten Menschen, die sich darüber wundern, dass es ihnen gelungen ist, eine einzige Person jahrzehntelang zu lieben. »Er ist Bankdirektor. Ich hätte mich totgelacht, wenn mir früher jemand gesagt hätte, dass ich mal mit dem Feind vor dem Traualtar stehe. Wie geht es eigentlich Ihren Großeltern? Ich habe öfter von ihnen in der Zeitung gelesen. Sie haben beide eine beachtliche Karriere hingelegt. Wenn das in dieser Welt überhaupt irgendwie wichtig ist.«
    »Sie sind glücklich.« Anna will nicht von

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