Wahr
mit dem Bild geschehen? Soll ich Ihren Vater anrufen? Als vollwertiges Kunstwerk würde ich es nicht einstufen, er hat ja mitten im Schaffensprozess abgebrochen. Nun, ich will mich nicht als Schätzer betätigen, das sollen andere tun.«
Die Frau auf dem Bild sah Eleonoora direkt in die Augen.
Die Ladentür klingelte, Rautalampi ging mit einem Räuspern in den Verkaufsraum.
Eleonoora betrachtete das Gesicht auf dem Bild. Dann wandte sie sich ab, fand den Stuhl in der Ecke und setzte sich. Sie hoffte, jemand würde kommen und das Gesicht mit einem Stück Stoff verhängen. Aber niemand kam. Es war Eeva, die sie ansah. Auch wenn Eleonoora sich noch so bemühte – sie konnte den Blick nicht von ihr losreißen.
Nicht erreichbar zu sein, sich um nichts mehr zu kümmern, das waren Eleonooras einzige Mittel, ihre Wut auszudrücken. Ziellos lief sie umher. Das Meer vor ihr war hoch, sah aus wie eine bleierne Wand und flackerte dennoch hier und da im Licht auf. Eleonooras Wut kam in Schüben, ebenso die Erinnerung.
Nach zwei Stunden blieb sie stehen und holte ihr Handy aus der Tasche. Neun Anrufe. Mehrfach ihr Vater, ein paar Mal vom Festnetztelefon in der Sammonkatu. Dann ein Anrufer mit unbekannter Nummer. Und gerade jetzt leuchtete das Display wieder auf: Anna. Auch sie rief nicht zum ersten Mal an. Eleonoora fiel das Handy aus der Hand. Am liebsten hätte sie es liegen gelassen, aber sie hatte eine vage Ahnung und hob es auf.
Sie redete los, ohne ihre Tochter nach dem Grund des Anrufs zu fragen. »Ich habe Eeva gesehen. Auf einem Bild.«
Anna schwieg. Wusste sie Bescheid? Sie wusste Bescheid.
»Großmutter hat mir von ihr erzählt«, sagte Anna. »Und auch Großvater. Sie haben beide von ihr erzählt.«
Eleonoora brachte nur einen einzigen Satz hervor: »Ich will nicht mit dir reden.«
Anna ignorierte ihre Worte. »Großvater hat versucht, dich anzurufen. Großmutter ist gestorben.«
1967
Das Mädchen sitzt auf der Schaukel und baumelt mit den Füßen. Es ist Oktober. Seine Mutter wollte diese Begegnung eigentlich verbieten, aber das Mädchen quengelte, trampelte und heulte und lag schreiend am Boden. Also bat sie mich zu kommen.
»Eine halbe Stunde«, sagte sie. »Im Garten. Ins Haus darfst du nicht.«
Ich gehe durch das Tor, die Mutter sieht mich, verschwindet im Haus. Das Mädchen schaut absichtlich in eine andere Richtung, tut so, als wäre unsere Begegnung gar nicht wichtig. In den wenigen Wochen ist Ella wieder ein Stück gewachsen. Sie trägt eine rote Jacke und feste Schuhe; die Tage sind kühler geworden. Ich muss sie ganz genau ansehen, muss mir jede ihrer Gesten einprägen und jeden Zug in ihrem Gesicht, das sich weiter ausbilden wird. Ich setze mich auf die zweite Schaukel neben sie.
»Wieso hast du eine Jacke an?«, fragt sie.
»Weil es schon ziemlich kalt ist«, antworte ich. »Du hast auch eine an.«
»Aha.«
Sie holt Schwung. Streckt ihre Beine und winkelt sie an, streckt sie und winkelt sie an. Die Schaukel quietscht leise.
»Mama sagt, dass ich jetzt höher schaukeln darf, ich bin nämlich schon größer.«
»Das ist aber schön.«
»Kann ich dich besuchen kommen? Zum Übernachten?«
»Heute nicht, heute musst du zu Hause bleiben.«
»Aber morgen? Kann ich morgen kommen?«
»Vielleicht«, lüge ich.
Sie holt noch mehr Schwung. Das Quietschen klingt aggressiv, entschlossen. Konzentriert schaut das Mädchen zur Haustür. »Ich frage Mama und Papa, ob ich bei dir übernachten darf. Und dann bauen wir eine Höhle.«
Ich glaube fast selbst daran, dass es möglich ist. Ella wird mich besuchen, und wir verbringen endlich wieder einen Tag, wie nur wir es können. Ich lüge weiter, denn etwas anderes ist mir nicht möglich: »Abgemacht, du kommst morgen.«
»Kann ich dann auch bei dir schlafen?«
»Vielleicht.«
Ella springt von der Schaukel. Ich versuche zu lächeln. »Geh nur«, sage ich. »Deine Eltern warten bestimmt schon auf dich.«
»Die Bäume sind voller Äpfel, weil Herbst ist. Wir waren gestern im Park, und Mama hat gesagt, dass man aus Äpfeln Marmelade kochen kann«, erzählt sie drauflos. »Nächste Woche wollen wir ganz viel Marmelade kochen. Papa liebt Marmelade, er streicht sie auf den Hefezopf und streut noch Zucker obendrauf. Genauso viel Zucker wie ich. Mama sagt, dass ich dich nicht mehr sehen darf. Sie weiß noch nicht, dass ich morgen bei dir übernachte.«
Ich nicke. Noch darf ich nicht weinen.
»Ich komme dann morgen, oder?«, vergewissert sich
Weitere Kostenlose Bücher