Wahr
beliebiger Gegenstand vom Bücherregal gefegt worden. Wir schweigen. Ich kann sein Herz schlagen hören, hier neben mir, obwohl es schon woanders hingehört.
»Das Mädchen könnte doch auch bei mir wohnen, das würde gehen.«
Er schweigt.
Ich mache weiter: »Samstags gehen wir auf den Markt. Und wir fahren regelmäßig ans Meer, bis an den äußersten Zipfel des Landes. Wir sehen die Wassermassen gegen die Wellenbrecher schlagen und rufen in den Wind. Wir tanzen auch im Alltag. Wir füllen unser Bücherregal, und wir kriegen oft Besuch. Kuschelige Höhlen für das Mädchen. Keiner wird wütend, auch wenn mal Ölfarbe an der Türschwelle klebt. Manchmal ist Sand auf dem Sofa, aber das macht nichts. Pfannkuchen, Marmelade, Höhlen. Und nachts lassen sich unsere Umrisse nicht mehr voneinander unterscheiden. So wäre unser Leben.«
»Schön«, sagt er, »eine schöne Geschichte.«
»Eine Geschichte?!«
»Ja. Nichts als ein Traum.«
Ich verstumme, atme nicht einmal mehr. Irgendwann frage ich: »Kann ich wenigstens nochmal das Mädchen sehen? Ein einziges Mal?«
Er antwortet nicht sofort. »Das muss ich mit Elsa besprechen, das kann nur sie entscheiden.« Er geht ins Badezimmer und wäscht sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser, denn auf einmal hat er das Gefühl, dass er verschwommen sieht. Dabei sieht er sehr gut. Er sieht Elsa, deren Konturen klarer vor seinem Auge zutage treten als jemals zuvor.
Während er im Bad ist, verstecke ich seine Schuhe im Ofen. Ich will ihn festhalten, begieße seine Füße mit Sirup. Er reißt mir die Dose aus der Hand und schleudert sie an die Wand, der Sirup hinterlässt ein hässliches Zeichen. Ich kippe ihm Milch auf den Kopf, er schleudert auch die Milchtüte an die Wand. Ich spritze Rotwein auf seine Brust, die Flasche zerschellt über dem Sirupfleck. Der Wein ist zu hell, um wie Blut auszusehen, ergibt ein fröhliches Gekleckse, die Wand sieht nach einem Freudenfest zu Ehren des Lebens aus. Verdattert denkt er: Was für eine erbärmliche Kunst, unkalkuliert und sinnlos.
Eine Minute stehen wir einander gegenüber, fünf Minuten, eine Stunde. Die Sonne geht unter, die Nacht dringt durch die Fenster. Um uns zerbröseln die Häuser. Ich beiße ihm ins Schlüsselbein, es wird eine Narbe zurückbleiben. Die Welt stürzt ein wie eine Kulisse, doch nein, das ist nicht wahr: Die Bäume im Hof stehen an ihrem Platz, der Himmel ist da, wo er sein soll. Er zieht mich zu sich, ich will ihn nie wieder gehen lassen. Er muss sich von mir losreißen, ich sinke zu Boden, umklammere seine Beine. Er schleift mich durch den Flur. Dieser Weg bis zur Tür dauert drei Jahre und vier Monate, so lange, wie es gehalten hat. Er dauert vierzig Jahre, denn so lange wird es weitergehen, auch nach dem Ende. Noch Jahrzehnte später wird er sich darüber wundern, dass er noch immer diesen Flur durchschreitet.
Ich lege mich vor die Tür. Er öffnet sie trotzdem, steigt über mich hinweg. Er schließt die Tür. Genau so: Er schließt einfach die Tür hinter sich.
Ich liege auf dem Boden, unfähig aufzustehen. Ich höre der Stille zu, die an den Wänden haftet. Ich zerfließe, sickere in die Ritzen zwischen den Dielen.
21.
KERTTU PALOVAARA ALIAS Katariina Aavamaa ist ganz anders, als Anna sie sich vorgestellt hat. Schon am Telefon klang ihre Stimme falsch. Als würde sie Widerworte unterdrücken und das hinter einer steifen Höflichkeit verstecken. Es ist Dienstagmittag. Katariina öffnet die Tür, bittet Anna herein. Anna muss sich schon im Flur eingestehen, dass sie enttäuscht ist. Kerttu die Lustige, Kerttu die Wilde lebt strikt nach Uhrzeit und Kalender. Katariina Aavamaa hatte ihr vorgeschlagen, sich zum Mittagessen zu treffen, und klar zu verstehen gegeben, dass sie keine abweichende Uhrzeit anbieten wird.
Annas Phantasie nach hätte sie eine Frau sein müssen, die den Schalk im Nacken hat und schnell loslacht, deren Tür Gästen jederzeit offen steht. Lange Haare, wallende Kleider aus indischen Stoffen, Blumen auf den Fensterbänken, Enkelkinder am Rockzipfel, ein schläfriger Hund, der von Zimmer zu Zimmer tappt. Aber Katariina Aavamaa ist eine disziplinierte Person. Ihre Haare sind in dezentem Blond gesträhnt und akkurat auf Kinnlänge geschnitten, ihre Wohnung ist vorwiegend in beige eingerichtet.
»Sie müssen Anna sein«, sagt sie. Weder bietet sie Gauloises an, noch hört sie laut Jefferson Airplanes Somebody to love und wirft dabei den Kopf in den Nacken.
Auf Katariina Aavamaas
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