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Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
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dazu komme, dann bitte du sie um Verzeihung.«
    Im Krankenhaus überwachte man ihre Herz- und Lungenfunktion. Er saß neben ihr. Er hatte die Schwester gebeten, weiter bei Eleonoora anzurufen. Elsa legte wieder ihre Hand auf seine. Sie fühlte sich kühl und leicht an. Nur mit Mühe ertrug er ihre gequälten Atemzüge.
    »Rufen die wirklich bei ihr an?«, fragte sie.
    »Ja, aber sie geht noch immer nicht an ihr Telefon.«
    Er erinnerte sich an ein weiteres Mal, als Elsa seine Hand gehalten hatte. Viel fester. Elsa war unnachgiebig gewesen, stark, hatte ihm verboten, sie zu verlassen. Bis heute musste er daran denken. Sie stand in der Tür und versuchte ihn am Gehen zu hindern. Er erinnerte sich ganz genau, an jedes einzelne Detail. Elsa trug einen hellgrünen Pullover, ihre Haare waren zusammengebunden, ihre Wangen vor Empörung gefleckt, auf ihren Lippen lag ein strenges Nein. Sie hatte seine Hand umklammert, obwohl er fortwollte. Er schüttelte ihre Hand ab, wollte sie aus dem Weg haben. Elsas entschlossener Blick hatte sich ihm entgegengestellt.
    Dann hatte er sie wirklich beiseite geschoben.
    Wenige Tage nach seiner Rückkehr wurde Elsa krank, das Fieber stieg schnell. Er deckte sie zu, brachte dann Eleonoora ins Bett, las ihr eine Geschichte vor, wartete, bis sie schlief. Wieder im Schlafzimmer, als er Elsas Atem zuhörte und das fiebrige Rot auf ihren Wangen betrachtete, durchströmte ihn ganz unerwartet das Gefühl von Liebe, drängte alles andere zur Seite. Leise zog er sich aus, legte sich behutsam neben Elsa, ganz dicht, spürte ihr verschwitztes Nachthemd. Elsa krümmte im Schlaf die Knie, er passte sich ihrer Form an.
    »Bitte geh nicht. Bleib hier«, murmelte sie schläfrig, womöglich im Fieberwahn. Es war eine Bitte. Kein Befehl, kein Verbot. Diese Bitte wollte er annehmen.
    »Komm neben mich«, sagte Elsa und klopfte schwach auf das Laken des Krankenbettes.
    Er sah zur Tür, als müsse er erst Erlaubnis einholen, setzte sich, hob Elsa vorsichtig ein Stück zur Seite, legte sich dann neben sie. Sobald er die Augen schloss, konnte er beinahe annehmen, dass dies ein beliebiger Morgen war, kurz vor dem Aufstehen, am Fenster die Dämmerung und im Kopf vage Pläne für den Tag.
    »Geh nicht«, sagte Elsa. »Du gehst doch nicht weg?«
    »Nein. Ich bleibe hier.«
    Vor dem Kollaps beruhigte sich Elsas Atmung. Er hatte sich schon fast an das mühsame Rasseln gewöhnt. Jetzt störte ihn die Ruhe; er hatte Angst, einzuschlafen. Vielleicht schlief er tatsächlich für einen Moment ein. Elsa lag regungslos.
    Der Tod selbst war nicht mehr ruhig. Die Ärztin sagte, ihr Körper sei in eine Art Schockzustand geraten, die Organe hätten blitzschnell ihren Dienst versagt.
    Trotzdem, seinem Eindruck nach war Elsa schon eher gegangen, mehrere Sekunden vor dem physischen Tod. Und dieser Moment war friedlich gewesen. Elsa hatte die Augen geöffnet und wieder geschlossen. Das hatte er Hunderte Male bei ihr gesehen. Er legte seine Hand auf ihren Kopf, betrachtete sie. Ihr Körper wurde steifer, nahm vielleicht seine letztendliche Form an, fand seinen Platz. Es schien, als würde Elsa diesen Moment, ihr Körpergewicht, dieses Bett und auch ihn bündeln.
    Erschöpft fragte sie: »Bleibst du hier, wenn ich kurz einschlafe?«
    »Ja. Ich bleibe hier.«
    1968
    Frühling. Ich atme wieder.
    Der Winter war nasskalt, vorübergehend schneidend und zugig, als wäre die Stadt ein Wartesaal auf einem verlassenen Bahnhof. Die letzten Monate waren mir meine Arme und Beine uralt vorgekommen, als ent­stamm­ten sie einem vergangenen Jahrhundert. Als gehörte mein Kopf ins Museum, zu anderen zerbrechlichen Gegenständen, hinter Glas.
    Der Kummer hatte seine poröse Stätte in mir aufgeschlagen. Mein Blick suchte die Straßen nach dem Mädchen ab, und nach dem Mann. Ich entdeckte sie kein einziges Mal.
    Im Februar war ich mit ihm verabredet. Wir spazierten umher, ich hatte nur eine halbe Stunde Mittagspause. Dann ging er seiner Wege, und ich schritt im hellen Winterlicht zurück zur Schule, prüfte in der dünnen Luft meine Glieder. Sie fühlten sich fremd an, als gehörten sie jemand anderem.
    Aber auf einmal ist wieder Frühling, alles brodelt. Der Fernseher im Lehrerzimmer der Schule zeigt Bilder von Unruhen, in den Zeitungen steht das Wort Umsturz. Ich bringe im Süden der Stadt unbesonnenen Jugendlichen französische Sätze bei, schreibe Wörter an die Tafel, die ich eigentlich auch zu den Menschen auf der Straße sagen könnte. Warum

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