Wahr
breche ich nicht auf, warum bin ich noch nicht dort? Worauf warte ich?
Aujourd’hui. Aujourd’hui.
Mit weißer Kreide auf die dunkle Tafel geschrieben, sieht das Wort aus wie ein Gebet.
Am sechzehnten April bekomme ich einen Brief von Marc. Er schreibt in regelmäßigen Abständen, erklärt mir seine Gedanken, die um die Erkundung des Alltags mit der Methode der Liebe kreisen. Und nun lädt er mich ein, ihn im Sommer zu besuchen.
Katariina will sofort los, ihr ist jedes Reiseziel recht. Am Ende landen wir sowieso in Paris, sagt sie. Alle landen in Paris! Sie spricht von der Stadt, als sei sie für uns so unausweichlich wie für unsere Mütter die Ehe.
Wir nehmen das Schiff, da Katariina zu wenig Geld für einen Flug hat. Marc schickt ein Telegramm, er will uns entgegenkommen, nach Stockholm, warum nicht sogar bis nach Finnland, ganz egal, er hat Zeit, auch Geld hat er genug. Ich telegrafiere ihm zurück: Wir sehen uns in Stockholm.
Ob ich ihn lieben kann? Vielleicht. Ich würde noch stärker als zuvor nur für jeden einzelnen Tag leben. Manchmal sehnt man sich so sehr nach einer Veränderung, dass man seine Bedenken einfach über Bord wirft.
Katariinas Bekannte Leylah kann uns ein paar Nächte bei sich in Stockholm aufnehmen. Leylahs Bruder Piet wiederum wird uns in Amsterdam beherbergen, wir dürfen bleiben, so lange wir wollen. Wir haben einen Plan: Leylah und Stockholm, Piet und Amsterdam, und dann Paris.
Ich denke an Kuhmo, an die Dachkammer, die hellen Sommernächte zwischen kühlen weißen Laken. Dort ruft der Kuckuck, ich könnte meinen Kopf ins Kissen sinken lassen. Aber Kuhmo ist nur ein Gedanke, den ich wieder verwerfe.
»Gut. Fahren wir«, sage ich.
Anfang Juni hebe ich alles Geld von meinem Konto ab. Die Gehälter von März, April und Mai. Aus der Zeit in der Sammonkatu habe ich noch über zweitausend Mark. Auch die hebe ich ab. Wenn ich aus diesen Jahren schon nichts zurückbehalten durfte, sie mich hohl und sehnsüchtig gemacht haben, so gibt es wenigstens dieses Konto, das ich vollständig leeren kann. Ich zahle die Miete für die Pengerkatu im Voraus, tausend Finnmark tausche ich in Francs ein, den Rest in Dollar.
In meiner Wohnung bestaune ich das stattliche Bündel aus Scheinen. Ich packe Hosen und bunte T-Shirts in den Koffer. Röcke und Kleider lasse ich zu Hause, vor allem den selbstgenähten Rock meiner Mutter aus viel zu dickem Stoff. Er gehört nicht dorthin, wo die Nachtigall in einer anderen Sprache singt. Er gehört in den alten Kleiderschrank, dort darf er einstauben.
Nach kurzem Überlegen nehme ich auch die Zeichnung des Mannes mit. Die aus dem Museum, bevor alles begann. Ich lege sie in mein Tagebuch, und das Tagebuch lege ich zwischen die Hosen. Seit Anfang des Jahres habe ich meinen Kummer aufs Papier fließen lassen, das Lachen des Mädchens in Zeilen gebracht, habe beschrieben, wie er die Zehen krümmt. Das werde ich nicht hier lassen, nein, ich reise mit unserer Geschichte an staubige Straßenecken und in Cafés, kippe Limonade oder Tee oder Armagnac auf die Tagebuchseiten, und es wird genau richtig sein. Ich nehme die Geschichte mit in die große Stadt, und dort wird sie nur noch schwarze Tinte auf altem Papier sein. Ich werde neue Sätze schreiben, die mit der Zeit zu meiner neuen Wahrheit werden. Aujourd’hui, elle va être heureuse.
An einem Dienstag betreten wir das Schiff. Der Tag ist heiß. Katariina hat sich ein Tuch um den Kopf gebunden, alles an ihr verspricht Neues. Wir gehen an Deck und winken der Stadt nach, sie sieht freundlich und bescheiden aus. Ich verwahre sie wie eine Brosche oder einen Hut, werde nur auf sie zurückgreifen, wenn ich Lust dazu habe.
Ich sage aujourd’hui, Katariina lacht. Ich sage es mit immer neuen Betonungen, bis es sich ganz nach meinem eigenen Wort anhört.
Am anderen Ufer erwartet uns Leylah. Sie winkt schon von Weitem, läuft auf das Schiff zu. Sie hat die dunkelste Haut, die ich je gesehen habe. Wenn sie lacht, leuchten ihre Zähne. Sie wohnt in einer unordentlichen Wohnung im Stadtteil Söder, ihre Mitbewohnerinnen heißen Agneta und Maj-Lis. Außer uns ist noch Mmkemba zu Besuch, er kommt aus irgendeinem afrikanischen Land. Mmkembas Haut ist sogar noch dunkler als Leylahs, ich kann den Blick kaum von ihm lösen.
Wir sind mit Marc verabredet, wollen ihn um sechs im Park treffen. Er kommt zehn nach sechs mit einer Gitarre. Seine Augen hatte ich schon vergessen: nicht eine Spur Ernst in ihnen! Seine Requisiten sind die
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