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Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
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Die Wirklichkeit von Kindern ist aus Träumen und Spielen gemacht, und ohne dass sie es merken, flicht sich auch die Lüge mit ein. Wahrscheinlich verhält es sich mit der Wirklich keit der Erwachsenen ganz genauso. Träume, Spiele, Lü­ gen.
    Martti ließ den alten Gedanken zu, der ihn früher quälte: Auch meine Kunst ist nichts anderes.
    Inzwischen schien Anna dem Spielen vollends entwachsen zu sein, neuerdings trat sie als Frau auf. Beim Familienessen im letzten Herbst war Martti die Veränderung zum ersten Mal aufgefallen. Anna kam gerade aus Paris zurück, stolzierte auf hohen Schuhen um die Ecke, gebräunt, lächelnd.
    »Wer bist denn du?«, hatte er Anna gefragt. »Meine Enkelin ist verschwunden und als Pariserin zurückgekehrt!«
    Anna hatte in Paris den Genuss entdeckt, dessen war er sich sicher. Sie hatte Wein zum Essen bestellt, und als sie am Glas nippte, hatte Martti gedacht: Es geschieht wieder und wieder. Immer gibt es Menschen, die noch unversehrt sind und glauben, dass ihre Erfahrungen ganz neu und von niemandem so empfunden worden sind. Sie glauben, dass ihr Leben, dass ihre Freude und Trauer einzigartig sind, Ausnahmen. Dass ausgerechnet ihre Liebe größer ist als die anderer. Dass sie nie das Gewicht der Tage tragen müssen. Und vielleicht haben sie recht. Jungen Menschen gehört die Welt, und sie verschwenden sie ohne Zögern, denn sie können es nicht erwarten, eine neue Welt zu erfahren, immer wieder eine neue.
    Er hätte Anna gern gesagt: Erschaffe dir ein Zuhause für diese sorglosen Tage. Sie sind ein Traum, noch musst du nicht aus ihm erwachen. Zehn Jahre, dann wachst du auf, weitere fünf, die du mit dem Bekämpfen des Aufwachens verbringst, nochmal zehn, und du gibst dich mit dem zufrieden, was ist. Das ist nicht schlecht, es ist weit entfernt von Unglück. Tatsächlich ist es sogar eine neue Form von Glück, das du hüten wirst wie alle früheren Glücksempfindungen. Du wirst noch immer Momente erleben, in denen die Welt sich dir als Geschenk darbietet. Aber sie werden anders sein. Du wirst die Welt prüfen wie ein Bild, das die Zeit gerahmt hat – die Erfahrung von Zeit, du wirst sie ganz anders schätzen.
    »Ich habe nicht geschlafen.« Elsa stand in der Schlafzimmertür, hatte ihr Gespräch gehört. Sie lächelte fragend. »Mein Schätzchen«, sagte sie zu Anna, »du bist gekommen. Wir könnten einen Hefeteig machen und backen!«
    »Jetzt übertreib mal nicht«, sagte er.
    Elsa zog die Nase kraus. »Wenn du so weitermachst, dann gehe ich am Inselsteg von Seurasaari schwimmen!«
    »Meinetwegen«, sagte er, »macht euren Hefeteig. Wenn ihr wollt, gleich die doppelte Menge.«
    Die Anspannung in Annas Gesicht war verschwunden.

5.
    » HAST DU DEN Wein mitgebracht?«, fragt ihre Großmutter erwartungsvoll, kaum dass ihr Großvater die Wohnungs­tür hinter sich geschlossen hat.
    Sie scheint seit gestern ein Stückchen kleiner geworden zu sein; sie wirkt kostbar und aussortiert zugleich, wie ein aus der Mode gekommenes eigenwilliges Schmuckstück. Ihre Augen liegen tief in den Höhlen, erinnern an ein hungriges Tier, einen Waschbär oder Panda. Die Haare bilden ein strubbeliges Wölkchen um ihren Kopf.
    Ihre Großmutter hatte gestern angerufen, als Anna schon aus dem Haus war. Sie flüsterte, und Anna war sofort klar, dass ihr Großvater den Anruf nicht mitbekom­men sollte. »Eins will ich noch«, sagte sie. Anna dachte an einen heimlichen Ausflug oder einen Besuch im Vergnügungspark, eine gefährliche Raserei mit dem Auto, eine Zugreise nach Moskau. Aber ihre Großmutter wollte Wein.
    »Syrah, eine gute Wahl«, sagt sie jetzt. »Los, wir machen eine Zweierparty. Lass uns nach draußen zur Gartenschaukel gehen.«
    »Mama wäre damit nicht einverstanden.«
    Ihre Großmutter wedelt entschlossen Luft beiseite. »Das gehört doch dazu! Mütter werden aus Sicht der Töchter wieder zu Kindern, und die Töchter zu einer Art Vormund. Wenn man alt genug geworden ist, muss man eben manches vor seiner Tochter verheimlichen. Ich habe jedenfalls vor, mir ein paar Gläser zu genehmigen, ohne mir dabei Gedanken über deine Mutter zu machen.« Sie wirft den Kopf in den Nacken und kichert.
    »Das kann mein Todesurteil werden, das weißt du«, witzelt Anna und lächelt. Ihre Großmutter ist noch ganz die alte.
    »Deine Mutter braucht es ja nicht zu erfahren.«
    Anna stellt ihre Tasche ab; auch ihre Unruhe legt sie ab.
    »Wir können frei von der Leber weg reden!«, sagt ihre Großmutter. »Von Frau zu

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