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Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
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Kastanie. Anna gießt Wein in die Gläser, ihre Großmutter holt den Proviant aus dem Korb.
    »Ich habe dieses Geräusch beim Wein-Einschenken immer furchtbar geliebt«, sagt ihre Großmutter. »Als junge Frau hatte ich Angst, dass ich deshalb zur Alkoholikerin werde. Aber dann ist mir klar geworden, dass es das Warten auf Feste ist, das Warten auf die Gäste, das mir noch besser gefällt.«
    Ihr Blick schweift zu einem Wölkchen über ihnen, erfasst die randlose Weite des Himmels im Mai und die Nachtigall auf einem Kastanienzweig, die stumme Wächterin vor ihrem abendlichen Konzert.
    »Ich hätte nichts gegen einen kleinen Schwips«, fügt sie hinzu und nimmt einen großen Schluck Wein.
    Als Anna vorsichtig an ihrem Glas nippt, klapst ihre Großmutter ihr ermutigend auf den Schenkel. »Nicht so zaghaft! Und jetzt von Frau zu Frau, wie abgemacht. Erzähl mir von Matias. Ein kluger Junge, und so gut aussehend. Aber ich merke, dass es irgendwo hakt. Ist es der Sex? Hat er etwa einen prüden Penis? Unbewegliche Hüften? Oder ist er ungeschickt in der Gesamtchoreografie? Meistens wird der Sex besser, wenn man ihn sich als Tanz vorstellt. Leider kapieren die Männer das oft nicht, obwohl ich Matias eigentlich ein gutes Rhythmusgefühl zugetraut habe.«
    Anna verschluckt sich und hustet. »Prüder Penis?«
    Ihre Großmutter steckt sich eine Weintraube in den Mund, als hätte sie nur von gestiegenen Milchpreisen geredet. »Beschönigen hilft auch nicht weiter. Empfindsame Männer sind im Bett oft fade.« Sie seufzt, als wäre ihre Äußerung ein bedauernswertes Naturgesetz. »Viele wollen vor dem Akt sogar das Licht ausmachen! Genau diese Sorte Mann hat in den meisten Fällen einen prüden Penis. Oft hängt das mit einem hohen Ausbildungsgrad und Bindungsproblemen in ihrer Kindheit zusammen.«
    »Das ist hoffentlich nicht die wichtigste Erkenntnis deiner langen Forschungskarriere?«
    »Und wenn doch?«
    »Dann würde ich beim Abendblatt anrufen und eine super Schlagzeile liefern!«
    Ihre Großmutter lacht, Anna sieht die überraschend helle rosa Zunge. Die Zunge eines Menschen ist immer dieselbe, dieselbe Zunge tastet nach der Muttermilch und später nach Essen, formt Wörter, Liebesgeständnisse und Befehle, wissenschaftliche Argumente und wieder Liebesgeständnisse, formt Bitten, Lob und Dank für Fürsorge und Pflege.
    »Ich will dich doch nur aufziehen. Außerdem hatte das Abendblatt schon letztes Jahr eine gute Schlagzeile!«
    »Ach ja, die Sache mit der Familie. Das war wirklich genial: Wissenschaftlerin verdammt die Familie .«
    Ihre Großmutter lacht schon wieder. »Und so hatte ich das nicht einmal gesagt. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass man das Ideal der Familie einer kritischen Prüfung unterziehen sollte. Dieses Ideal hat meist wenig mit der Realität zu tun, schließlich sind Menschen mit den sonderbarsten Familiensituationen konfrontiert und passen sich trotzdem wunderbar an, führen ein glückliches Leben! Die Wirklichkeit drängt sich eben immer dazwischen, in jeder Familie, und so soll es auch sein. Aber niemand kann seine Herkunft, seine ersten Bezugspersonen abschütteln. Man muss mit seiner Kindheit ins Reine kommen, um etwas Neues im Leben erlangen zu können. Genau das tun Menschen und finden so Zufriedenheit und Glück.«
    In den Augen ihrer Großmutter leuchtet ein zärtlicher Witz auf, als wäre die Welt ein dummes Ding, dem man mit Hilfe von Weichheit und Großmut verzeiht.
    Das Interview war stark zugespitzt. Auf dem veralteten Foto schaute ihre Großmutter aufrecht und geradeaus in die Kamera. Die Bildunterschrift bezeichnete sie als eine Radikale der Jetztzeit, als Anwärterin der Frauen im akademischen Dschungel. Ihre Großmutter hatte darüber belustigt geschnaubt. »Was die sich alles ausdenken! Ich bin doch keine Radikale. Alles was ich will, ist forschen und dabei Menschen helfen und meinem Weg folgen. Wenn praktischer Verstand und Menschenliebe radikal sind, gut, dann erfülle ich anscheinend die Kriterien.«
    Die Nachtigall in der Kastanie sieht sie aufmerksam an und schweigt. Das ihnen zugewandte Auge glänzt, ist ein schwarzer Punkt im Universum. Stumm und wissend wacht das kleine Tier über sie, erst später wird es seinen Rat in hellen Tönen hinaussingen.
    Ihre Großmutter schneidet eine dicke Scheibe Brie ab und legt sie auf ein Stück Baguette. Anna kann nicht umhin, an das Geschwür zu denken, das irgendwo in den Zellen lauert. Das alles Leben verschlingt, dasselbe Leben,

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