Wahr
Schritte. Ihr Großvater.
»Anna, unsere Anna. Schön, dass du da bist. Wir haben gerade Kaffee getrunken. Großmutter hat sich jetzt hingelegt.«
Hinter seinen knappen Sätzen verbirgt sich die Irritation darüber, dass er mit seiner Enkelin allein im Flur steht.
Anna ist wachsam. Eine flimmernde Unruhe steigt in ihr auf. »Hingelegt? Hat sie Schmerzen?«
»Naja, ein bisschen. Sie ist müde.«
»Schläft sie schon?«
»Weiß nicht, macht wohl ein Nickerchen.«
Ihr Großvater ist ihr so vertraut. Dieser Mann, ein Seher, wie er mal in einer Zeitungsüberschrift genannt wurde. Der Ruhm erlangt hat, Erfolg und Anerkennung, der sich seine Verletzlichkeit bewahrt hat, seinen Humor und seine Melancholie, der die unbestimmten Sehnsüchte seiner Kindheit bis in diesen Moment getragen hat, der Dutzende Vernissagen überstanden hat und durch rastlose Zeiten in Paris gegangen ist, bis hierher in diesen Flur, wo er seine Enkelin begrüßt und überlegt, was er sagen soll. Die Jahre haben sich in ihm abgelagert, jede Lebensphase, jeder Frühling. Anna sieht sie alle.
Plötzlich erinnert sie sich an eine Geste aus dem Repertoire des Charmeurs, das ihr immer fremd geblieben ist, das aber unumstößlich zu ihrem Großvater gehört. Sie erinnert sich daran, wie sie als Zwölfjährige in Rock und schicken Sandalen bei einer der zahlreichen Preisverleihungen dabei gewesen ist. Am Ende des Festakts wirft ihr Großvater seinen Blumenstrauß ins Publikum; er lächelt kurz, ehe er seiner spontanen Eingebung folgt. Als eine Journalistin den Strauß fängt, zwinkert er ihr zu. Die Frau errötet, deutet einen Knicks an. Ihr Großvater hebt die Augenbrauen, als wolle er sagen: »Der Knicks ist eine Geste der Unterwürfigkeit, da haben Sie doch Besseres zu bieten!« Die Frau sieht ihn fragend an. »Und was soll ich tun?« Ihr Großvater kehrt seine Handflächen nach außen: »Was auch immer Ihnen einfällt!« Daraufhin vollführt die Journalistin eine nahezu perfekte Pirouette, wie eine Tänzerin, und verbeugt sich. Nun ist ihr Großvater zufrieden, er wirft der Frau eine Kusshand zu. Damit endet die Vorstellung, so schnell, wie sie begonnen hat.
Die Beziehungen zwischen Menschen sind wie dichte Wälder. Oder vielleicht sind die Menschen selbst Wälder, in denen sich immer neue Pfade eröffnen. Manche dieser Pfade bleiben nahezu geheim, zeigen sich nur zufällig einem anderen Menschen, der zur richtigen Zeit da sein muss.
Anna erinnert sich wieder an die Tage im Park. Und an die Tage im Atelier, als ihr Großvater sie gemalt hat. Die Sitzungen waren den zähen Überredungskünsten ihrer Mutter zu verdanken, aber nachdem ihr Großvater in Fahrt gekommen war, bekam er Freude an dem Projekt.
»Gut. Dann mal hereinspaziert«, sagte er im Flur. Er reichte ihr die Hand und Anna nahm sie, während ihr eine ungeordnete Gedankenkette durch den Kopf schoss; Mann, Glück, Intensität, vielleicht Liebe. Die Hand ihres Großvaters war sehnig und stark, mit dunklen Härchen bewachsen. Er roch nach Rasierwasser, Putzwolle und Terpentin.
Nach den Sitzungen gingen sie in den Park, und Anna durfte sich ein Eis kaufen. Sie beobachteten die Brautpaare vor der Kirche, versuchten ihre Namen zu erraten. Sanna und Mikko? Amalia und Julius?
»Warst du auch mal ein Junge?«, fragte Anna.
»Ja.«
»Bevor du Großmutter getroffen hast?«
»Ja.«
»Und als du sie getroffen hast, warst du verliebt und aus dir wurde ein Mann?«
»Genau.«
»Gab es davor auch andere?«
»Ein paar.«
»Und danach?«
»Du fragst ja seltsame Sachen.«
»Ja oder nein?«
»Es gab eine.«
»Wer?«
»Das wunderschönste Mädchen der Welt. Sie heißt Anna, und ich gehe manchmal mit ihr Eis essen.«
»Aha.«
All dies ist heute nur noch ein ferner Traum. Er endete, als ihre Brüste zu wachsen begannen. So läuft es, wenn die Enkel die Körpergröße ihrer Großeltern erreichen; übrig bleiben guter Wille und Verlegenheit.
Ihr Großvater lächelt. »Ich wollte gerade ein bisschen Freizeit machen, so wie deine Mutter das nennt.« Er grinst und betont jede Silbe, so dass sich Freizeit nach einem neumodischen Zwang anhört, den sich nur gerissene Gefängnisaufseher ausdenken konnten.
Sie lächeln sich wissend zu, ein Einverständnis darüber, Disziplinierungsversuchen zu widerstehen, sich außerhalb des Wirkungskreises von Annas gestrenger Mutter zu befinden. So waren sie schon früher. Sie gingen ins Café Fazer und schlugen sich heimlich den Bauch voll, obwohl Anna vor
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