Wahr
ihrem Alltag nicht kannte.
»Weißt du noch? Als Bianca mochtest du Oliven, obwohl du die sonst verabscheut hast!« Ihre Großmutter lachte.
»Stimmt. Ich habe sie mit Messer und Gabel von einem kleinen weißen Teller gegessen.«
»Und du bist mit viel zu großen Stöckelschuhen herumstolziert. Dabei hast du von Flughäfen, Börsenkursen und Parfüms geredet. Wenn du das Bianca-Kleid anziehst, könnte ich das Kleid anziehen, das ich zu meinem Fünfzigsten getragen habe, mal sehen, wie es sitzt. Die gute Seite an dieser Krankheit ist, dass ich fast wieder die Maße einer Zwanzigjährigen habe. Such du das Kleid für Bianca raus, ich bereite schon mal unser Picknick vor.«
Im Zimmer liegt eine schläfrige Schicht aus Staub. Anna bleibt in der Tür stehen. Die Helligkeit des Tages fällt bis auf die hintere Wand. In diesem Zimmer gilt keine Zeit. Im Schrank hängen alte Mäntel, Kleider, auch ein paar Männerhemden. Das Bianca-Kleid ist schwarzweiß und hängt unübersehbar gleich ganz links. Sie berührt es nicht einmal, sucht etwas anderes.
Zielstrebig sieht sie die Kleider durch, streicht über die Stoffe. Jahrzehnte, auf Kleiderbügel gehängt. Sie öffnet die zweite Schranktür, die Scharniere knarren unangenehm. Die Kleider hier wirken sehr alt, hängen seit Urzeiten unberührt auf der Stange. Anna nimmt eins heraus, das sie noch nie gesehen hat. Das cremefarbene Kleid mit den verzierten Säumen ist wahrscheinlich aus den fünfziger Jahren. Eine breite Schärpe an der Taille, ein gerader Halsausschnitt, der die Schlüsselbeine freigibt. Ein raschelnder Schwall Rüschen am unteren Saum. Sie kann sich das Fest dazu gut vorstellen: Hoffnungen blitzen durch den Raum; freundliche Blicke und Komplimente gehen hin und her, die anfangs angespannte Stimmung weicht wilder Ausgelassenheit. Einige begegnen einander zum ersten Mal, andere sehen sich mit neuen Augen, vertrauen sich vielleicht ihre herbsten Enttäuschungen, ihre heimlichsten Hoffnungen an. Stimmen schwirren durchs Wohnzimmer, aber zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, nehmen den Lärm gar nicht wahr; sie sehen einander an, voller Schrecken und Faszination und Hingabe, denn sie wissen, dass etwas begonnen hat und es kein Zurück mehr gibt.
Anna zieht Jeans und Bluse aus, schlüpft flink in das cremefarbene Kleid. Es passt, nur an der Brust ist es eine Spur zu eng. In diesem Kleid ist sie eine andere. Vermutlich hat ihre Großmutter es zwei, drei Mal im Jahr getragen, wenn sie mit Freundinnen ins Theater ging und danach auf einen Cocktail in eine Bar. War sie dann für ein paar Stunden eine andere als sonst, spähte neugierig durch die verrauchte Luft zur Tür und stolzierte später mit eleganten Schritten nach Hause? Es wäre nicht typisch für sie gewesen, sondern auf geheimnisvolle Weise typisch für das Kleid .
»Wo hast du das denn gefunden?«Ihre Großmutter steht hinter ihr.
»Das hing hier im Schrank. Es ist doch nicht das von deinem fünfzigsten Geburtstag?«
Ihre Großmutter lässt den Blick über den Stoff wandern. »Du kannst es haben.«
»Wirklich?«
»Ich brauche es nicht. Nimm es mit nach Hause, du kannst es auf Partys tragen. Was ist mit dem Bianca-Kleid, wieso ziehst du das nicht an? Das ist doch viel schöner!«
»Ich möchte aber dieses anziehen.«
Ihre Großmutter zuckt mit den Schultern. »Wenn’s sein muss.« Es klingt, als hätte sie gar keine Lust mehr auf das Spiel.
Sie geht zum Schrank, findet ihr Kleid sofort. Zieht Rock und Bluse aus. Für einen kurzen Augenblick steht sie bleichhäutig mitten im Zimmer, wirkt ein wenig hilflos. Anna sieht den huckligen Pfad ihrer Wirbelsäule, schiebt den Schreck beiseite. Wie dünn sie ist! Sie hilft ihr mit dem Rückenreißverschluss, vorsichtig, vorsichtig. Das Kleid sitzt eindeutig zu locker, ist mindestens zwei Nummern zu groß. Anna schweigt sich taktvoll aus, denn ihre Großmutter wirkt zufrieden:
»Gut! Dann sind wir ja bereit. Ich habe übrigens Zwiebelkuchen da«, sagt sie stolz. »Den habe ich gestern gebacken, als ich es satt hatte, immer nur krebskrank zu sein.«
Sie legen Baguette, Brie, den Zwiebelkuchen, zwei kleine Flaschen Mineralwasser, Weintrauben und eine Tupperdose mit Obstsalat in den Picknickkorb, dazu die Olivenfocaccia, die Anna mitgebracht hat. Dann nehmen sie noch eine hübsche Decke mit, wie echte Pariserinnen. Ihre Großmutter knotet sich ein Tuch um ihr Haarnest, setzt die alte Chanel-Sonnenbrille auf.
Sie setzen sich in die Gartenschaukel unter der
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