Wahr
Arbeit fragt. »Emanzipation und so was. Die Frau.« Sie versteckt die Wucht des Themas und die Unsicherheit, die es mit sich bringt – so vieles müsste sie lesen! – hinter Ironie, wirft ihrem Großvater ein breites Lächeln zu, betont übertrieben jedes Wort: »Ich suche die Frau von früher in den Faltenwürfen der Zeit, und gleichzeitig versuche ich, der neuen Frau auf den Fersen zu bleiben.«
Großvater stößt einen anerkennenden Pfiff aus. Eine unsäglich altmodische Reaktion, aber trotzdem charmant. Auf einmal sieht Anna den Fünfzehnjährigen in ihm. »Beeindruckend«, sagt er. »Nimm doch noch die Frage nach der Existenz Gottes mit dazu, dann hast du die Erklärung für alles.«
»Kein Problem. Ich verspreche, in meiner Schlussfolgerung theologisch zu werden.«
Ihr Großvater schweigt, wartet auf die Fortsetzung. Anna lässt die Stille an den Wänden herunterrieseln. Sie vermisst die gemeinsamen Tage von früher. Warum können sie nicht einfach in die Straßenbahn steigen und losfahren? Damals waren sie einander nah, hatten eine gemeinsame Sprache. Wohin ist die verschwunden? Sie könnten ins Café Ursula gehen, über aufgedonnerte Frauen lachen, Törtchen bestellen und sich unter die Ausflügler mischen. Es fällt ihr so leicht, sich ihren Großvater als Zwanzigjährigen vorzustellen: Er trug die Sorgen eines Jungen und hegte gleichzeitig große Träume für die Zukunft. Und trotzdem tut sich zwischen ihnen eine Kluft auf. Unter dem Blick ihres Großvaters beginnt der Tintenfleck in ihr wieder zu wachsen; sie fühlt sich an ihre Sorgen erinnert, möchte am liebsten weglaufen. Wann genau ist der Zeitpunkt, an dem sich Familienmitglieder in Spiegel verwandeln, deren Anblick einem Schmerz bereitet?
Anna beschließt: Sie bleibt höchstens drei Stunden. Sie wird ihrer Großmutter Gesellschaft leisten, damit ihr Großvater tun und lassen kann, was er will. Dann wird sie die Wohnungstür hinter sich schließen, Saara in der Stadt treffen und sich abends an den Schreibtisch setzen. Emanzipation ist für sie fast ein Schimpfwort, das ganze Thema scheint ihr auf einmal banal. Wieso hat sie sich für einen feministischen Ansatz entschieden? Jetzt ist es zu spät. Trotzdem nimmt sie sich vor, abends noch zwei Stunden an ihrer Arbeit zu schreiben. Und bevor es Nacht ist, wird sie mit Matias einen Spaziergang zum Strand machen. Matias wird seine Gitarre mitnehmen, und sie werden den Wein austrinken, der von der Party letzte Woche übrig geblieben ist. Sie werden auf den Felsen sitzen, die Luft wird sich abkühlen, und Anna wird leicht betrunken sein, obwohl sie morgen im Buchgeschäft arbeiten muss. Der Tintenfleck wird ein klar umgrenzter kleiner Bereich sein, und sie wird seinen Umriss aufzeichnen, damit er nicht wieder wachsen kann.
»Na dann«, sagt sie und kratzt all ihre Tatkraft zusammen, »warten wir darauf, dass Großmutter aufwacht.«
4.
SIE WAR PÜNKTLICH , klingelte exakt um eins, wie vereinbart. Martti wollte zu einer Routineuntersuchung gehen. Was sonst sollte er tun? Am Meer spazieren gehen, in Cafés sitzen, Kuchen essen? Er hatte keine Ahnung. Doch diese Fragen lasteten als Druck auf seiner Brust: So würde sich sein Leben anfühlen, wenn Elsa fort war. Unruhig überlegte er, wie er die kommenden Stunden verbringen sollte.
Anna lächelte. Wie ähnlich sie doch dem Mädchen sah, das als Sechsjährige zu Besuch kam.Das Kinderzimmer war das Reich seiner Enkelinnen gewesen. Elsa und er hatten Eleonooras alte Spielsachen vom Dachboden geholt und das Zimmer wieder so eingerichtet, wie es zu Eleonooras Zeit ausgesehen hatte. Das Bett, das Puppenhaus, der Schrank mit dem Spielzeug, alles. Annas Lieblingspuppe war Eleonooras einäugige Puppe Molla. Sie war vom Spielen abgenutzt, hatte viele Sommer lang Erdbeeren und Eiscreme mitgegessen, hatte Schlittenfahrten mitgemacht und war mehrfach geflickt und gestopft. Einmal hatte Anna Molla unerlaubt mit nach Hause genommen. Beim nächsten Besuch stellte Elsa ihre Enkelin zur Rede.
»Ich weiß nicht, wo Molla ist«, log Anna mit unschuldigem Gesicht.
»Ich habe deine Mutter angerufen«, sagte Elsa, »Molla ist in deinem Zimmer. Was glaubst du, wie sie dorthin geraten ist?«
»Weiß ich nicht. Vielleicht ist sie spazieren gegangen?«
»Puppen können nicht gehen.«
»Aber vielleicht Molla! Sie ist bestimmt eine Puppe, die laufen kann, wenn man nicht hinsieht.«
Sie hatte ihrer eigenen Lüge so bedingungslos geglaubt, dass Elsa und er lächeln mussten.
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