Wahr
dem Mittagessen nichts Süßes essen durfte. Sie waren ausgelassen und unbekümmert, fuhren mit der Straßenbahn herum und dachten sich Biographien für Passanten aus.
Anna macht das noch immer. Sie pickt sich an einer Kreuzung oder in der Straßenbahn einen Menschen heraus und malt sich seinen Tag aus, seine Freuden und Leiden. Auf diese Art erträgt sie das Gewicht ihres eigenen Lebens besser, einen Kummer wie einen Tintenfleck, der sich mitunter in ihr ausbreitet, die Dienstagabende, an denen es im Treppenhaus nach gebratenem Fisch riecht und alles ewig gleich scheint. Es ist leicht, Geschichten über Passanten zu erzählen. Schwerer ist es, in der eigenen zu bleiben.
»Und Matias?«, fragt ihr Großvater. Dasselbe hat er schon gestern gefragt.
»Schreibt in der Bibliothek über die letzten Jahrzehnte. Genau wie gestern.«
In Gedanken streichelt sie Matias. Heute ist ihr Tag. Vor genau fünf Monaten haben sie das Sofa über die Schwelle getragen, die ganzen restlichen Sachen. So was von verrückt, sie kannten sich gerade einen Monat! Am ersten Morgen bestellten sie Pizza und legten alte Platten auf, Neil Young, die Beatles. All you need is love spielten sie immer wieder, keiner konnte zugeben, dass sie sich damit ihres Glückes versichern wollten. Nachdem sie planlos die Möbel von einer Ecke in die andere geschoben hatten, liebten sie sich im Ohrensessel, für den sie ebenfalls keinen Platz fanden. Die große Fotografie schleppten sie in die Abstellkammer, die Frau aus dem Epos. Dort steht sie noch immer.
Anna wollte sie eigentlich zum Sperrmüll stellen.
»Das Foto kannst du doch nicht wegwerfen«, sagte Matias. »Das bist immerhin du.«
»Ein altes Ich«, erwiderte sie. »So bin ich heute nicht mehr.«
»Oh doch«, sagte Matias in seiner ewig einfühlsamen Art, die Anna manchmal wahnsinnig machte. »Man trägt alle früheren Formen des Ichs mit sich.«
Auf dem Foto taucht Anna gerade ihren Fuß in den See und zerstört die ruhige Oberfläche. Sie wirkt ernsthaft, ernsthafter als sie sich tatsächlich fühlt, eine Frau, die den Kopf aufrecht hält und ihr Schicksal trägt, es ins Wasser trägt, in die kühlen Gemächer des Sees, und dann in eine andere Welt. Auch wenn das Bild düster wirkt – der Tag war in Wahrheit heiter gewesen. Der Mann hatte seinen Blick nicht eine Sekunde von ihr abgewandt.
In der Wohnung von Matias und ihr sind die Wände noch immer kahl. Sie wollen eine alte Radierung von Annas Großvater aufhängen – befinden die sich eigentlich im Sommerhaus in Tammilehto oder im Atelier in Töölö? –, haben sich aber noch nicht darum gekümmert. Es gibt genug anderes zu tun; die Dienstagabende, der ganz normale Alltag.
Matias kennt Anna und Anna Matias. Jeder Außenstehende würde sie für glücklich halten, und vielleicht sind sie es auch. Sie verbringen Tage, Abende, Morgen, wieder und wieder, gegenseitiges Einverständnis, gemeinsam gekochte Mahlzeiten, Spaziergänge am Meer, während der Mond ein blasser Fingerabdruck am Himmel ist. Dennoch träumt Anna heimlich davon, eines Tages mit wasserfestem Stift einen Abschiedsgruß auf den Dielen zu hinterlassen, ohne weitere Begründung. Ja, es gibt die Möglichkeit, über die Schwelle zu gehen, den weinenden, brüllenden Anderen hinter sich zu lassen, ihn damit für ganze Tage auf die Dielen niederzustrecken. Man muss einfach nur »bis morgen« sagen, obwohl man weiß, dass es kein gemeinsames Morgen mehr geben wird.
Anna erinnert sich an den Nacken des Kindes. Der Gedanke daran ist so stark wie ein Bild: Linda streckte ihre Hand aus, um Anna zum Überqueren einer Straße anzufassen. Es war ihre erste Begegnung, Linda war gerade zwei geworden. Sie streckte ihre Hand aus, und Anna sah den Nacken des Kindes, die weiß schimmernde Hautpartie zwischen Haaransatz und Kragen. Dieses Vertrauen. Nur die, die noch nichts verloren haben, können so vertrauen, ohne jeden Zweifel. Nur die, die noch nicht enttäuscht wurden.
»Und du?«, fragt ihr Großvater. »Was hast du so getrieben?« Er bemüht sich, ein Thema zu finden. Gestern, als alle anderen um sie herum saßen, war er viel natürlicher.
»Ich schreibe doch meine Abschlussarbeit. Aber so richtig geht es nicht voran, obwohl ich dieses Frühjahr bei einer Absolventengruppe war. Irgendwie stockt es.«
»Wo genau drückt denn der Schuh?«
»Die Fragestellung ist zu kompliziert.«
»Inwiefern?«
Anna spürt ihre Ausweichbewegungen, wie immer, wenn jemand nach ihrer unbeendeten
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