Wahr
Frau. So wie im Kino, wenn die Zeit knapp wird. Dann muss man alles aussprechen.« Sie nimmt die Flasche und verschwindet in der Küche.
Anna schaut sich im Wohnzimmer und in der Bibliothek um, bleibt gedankenverloren an der Tür zum alten Zimmer ihrer Mutter stehen. In der Holzwiege träumt Molla mit einem offenen Auge nie endende Träume. Wann hat sie eigentlich das andere Auge verloren? Hat es ihr jemand abgerissen? Das Puppenhaus steht an seinem alten Platz. In Annas Kindheit war es die Bühne ihrer Wünsche und Sehnsüchte. Vor einem winzigen Flügel sitzt eine Frau, als würde sie gleich losspielen. Irgendwo, vielleicht in der Miniaturwiege, muss die Babypuppe liegen. Das größere Kind schläft in seinem Bett neben dem Klavierzimmer. Ein aus der Kindheit vertrautes Gefühl von Freude durchströmt Anna. Damals schloss sie mit der Zimmertür auch die Welt aus, kniete sich auf den Boden und ersann eine neue Welt. Manchmal, wenn sie bei ihren Großeltern schlief, stand sie sogar nachts auf, um mit dem Puppenhaus zu spielen. Die Dunkelheit schuf neue Regeln, brach die Verlässlichkeiten des Tages, die Puppen führten ein Eigenleben. Neben ihr auf der Matratze lag leise schnaufend ihre kleine Schwester Maria. Anna verhielt sich so leise wie möglich, um sie nicht zu wecken, wollte das Puppenhaus für sich haben. So lange, wie ihr Spiel nur ihr selbst gehörte, und niemand davon wusste, so lange war alles möglich. Zeit gab es nicht. Es gab keine Stunden. Kein Zimmer, kein Bett. Kein Schaukelpferd in der Ecke. Sogar sie selbst gab es nicht. Sie verschmolz mit den Schatten der Miniaturzimmer und wurde reiner Wille, der die Gestalt der Puppenleben annahm. Mal war sie die Stimme der Mutter, mal des Kindes, mal des Vaters. Das Einzige, was sie ärgerte, war die unumstößliche Tatsache, dass Molla zu groß war für diese Welt. Manchmal ließ sie Molla trotzdem mitspielen: Einäugig saß sie am Fenster und beobachtete das Treiben im kleinen Zuhause. Die Szenerie war eher grotesk als heimelig, das spürte sie bereits als Kind.
Anna nimmt Molla aus der Wiege, drückt sie kurz an sich. Die Puppe lächelt mit der alten Narbe am Mund – wie oft riss ihr Mund beim Spielen ein und musste geflickt werden. Trotzdem ist Molla heiter, voller Vertrauen, scheint zu sagen: Wir haben nichts zu befürchten.
»Erinnerst du dich, wie du Molla gemopst hast?«, fragt ihre Großmutter. Anna hat sie nicht kommen hören.
»Ja. Ich habe sie eine Woche lang bei mir versteckt. Keine Ahnung, wieso ich derart auf sie fixiert war.«
»Kinder sind auf die seltsamsten Dinge fixiert, so ist das nun mal.«
Anna bemerkt, dass sie Molla wie automatisch über den Kopf streicht. »Das Puppenhaus ist fast ein Wunder. Es ist immer da gewesen und hat sich all die Jahre nicht verändert.«
»Du kannst es gern haben. Kriegst ein Puppenhaus als Erbe, wenn es mit mir zu Ende geht. Deiner Mutter könnte das missfallen, also schreibe ich besser ein Testament. Au ja, lass uns das sofort machen, hier beim Wein.«
»Bitte sag das nicht. Sag nicht, dass du stirbst.« Annas Stimme kündigt ein Weinen an, sie hört es am brüchigen Klang, noch bevor sie die Tränen schmeckt. Einen Moment stehen sie still da. Lass uns hierbleiben, denkt Anna. Wir machen einfach die Tür zu und beschließen, dass die Krankheit abgesagt wurde. Tür zu.
Sie riecht den Duft ihrer Großmutter, ihre Creme, mit der sich Anna als Kind nach dem Baden viel zu dick ein geschmiert hat, was ihre Großmutter zum Lachen bra chte. In den Geruch hat sich eine neue Note gemischt, dunkel und leicht muffig. Eine Ahnung des Endes.
Vor dem Fenster steht die Kastanie, ruhevoll und majestätisch ragen ihre Blütenfackeln in die Mailuft und werfen doch vibrierende Schatten an die Zimmerwand. Anna überkommt ein Gefühl von Frieden, das vielleicht eine Erinnerung aus frühester Kindheit ist. Zum Mittagsschlaf stand ihr Kinderwagen immer unter der Kastanie. Auf dem Verdeck über ihrem Kopf fand das gleiche Spiel des Laubes statt: Licht, Schatten, Licht.
»Rate mal, was wir jetzt machen?«, fragt ihre Großmutter auf einmal.
»Keine Ahnung. Was?«
»Verkleiden spielen! Weißt du noch?«
Es war eins von Annas Lieblingsspielen, sie hieß dann immer Bianca. Sie zog sich ein Kleid über und dachte sich ein neues Leben aus. Bianca war eine vornehme Dame aus Italien; in ihrer Rolle wusste Anna über Dinge Bescheid, von denen sie sonst keine Ahnung hatte, verspürte Gefühlsregungen, die sie aus
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