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Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
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seine Tochter Eleonoora. »Wo bist du?«
    »In Tammilehto.«
    »Alleine? Warum das denn? Wie bist du hingekommen?«
    »Mit dem Auto.«
    »Du kannst doch nicht einfach alleine losfahren!«
    »Als ich das letzte Mal in die Papiere geschaut habe, war das Sommerhaus noch auf meinen Namen eingetragen. Und soweit ich weiß, bin ich noch immer dein Vater und nicht du meine Mutter. Insofern ist es gut möglich, dass ich das Auto genommen habe und hergefahren bin.«
    »In Ordnung, aber fang dort wenigstens nicht an zu malen. Mama hat erzählt, dass du vielleicht wieder arbeiten willst. Ich möchte nicht, dass du da allein mit dem Terpentin und dem ganzen anderen Kram herumfuhrwerkst.«
    »Erlaube mir noch die eine Bemerkung, dass ich mein ganzes Leben lang alleine gearbeitet habe. Aber keine Sorge, ich werde hier nicht malen, sondern Reparaturen machen.«
    »Wie bitte?!«
    »Ich muss die Saunaveranda abreißen. Sie ist verfault und muss erneuert werden. Vielleicht auch die vordere Wand.«
    »Du reißt gar nichts ab. Lass uns bitte zusammen gucken, was wirklich nötig ist, ja? Wie geht es Mama?«
    »Sie wollte mit Anna picknicken.«
    Eleonoora seufzte. »Alles klar«, sagte sie mit Resignation in der Stimme. »Für Mama sind ihre letzten Wochen anscheinend ein einziges großes Picknick.«

7.
    ANNA ÜBERQUERT DIE Straße. Sie hat sich mit Saara im Park auf der Esplanade verabredet und ist schon zu spät. In ihrer Tasche liegen die Jeans und die Bluse. Der Rüschensaum des Kleides schwingt um ihre Waden, der Weinfleck ist in einer Stofffalte verschwunden. Sie ist ein wenig erhitzt, vielleicht aufgeregt, ihr Mund ist trocken nach dem Wein. In ihr rumort die Frage: Weiß Mama es noch? Erinnert sie sich an Eeva? Sie muss sich erinnern. So was kann man nicht vergessen. Man kann es verbannen, aber nicht vergessen. Das ist ein Unterschied.
    Saara sitzt auf dem Rasen und isst Eis. Sie hat ein türkisfarbenes Seidenband in ihre Haare geflochten. Wahrscheinlich hat die Farbe etwas zu bedeuten. Wahrscheinlich verkündet sie mal wieder einen neuen Gedanken, den Saara Anna aber erst im Herbst verraten wird. Saa­ras Lipgloss ist fuchsiafarben. Was das bedeutet, weiß Anna schon: Der Sommer darf kommen.
    In der Schulzeit hat Saara sich nie geschminkt, doch als sie auf die Uni kam, meinte sie, dass auch das ungeschminkte Gesicht eine Art Maske sei. Also könne man es genauso gut verwandeln und benutzen, als Präzisionswaffe einsetzen.
    »Ein neues Kleid«, sagt Saara, »schön.«
    Anna würde gern sofort erzählen, was sie gehört hat. Aber sie tut es nicht, redet stattdessen über Eissorten. Was schmeckt am besten, Blaubeere, Nuss-Karamell oder vielleicht diese neue Sorte mit Marshmallow?
    »Guck mal, die schönen Blüten«, sagt Saara, nickt mit ihrem zierlichen Kopf zu den Kirschbäumen und leckt an ihrem Eis. Baumblüten sind bei Saara immer willkommen. Das kann man nicht über alle Dinge sagen, sie hat ihre Prinzipien.
    »Wirklich, sie leuchten richtig«, erwidert Anna, auch um das Thema Eeva hinauszuschieben.
    Sie geht rüber zum Kiosk, der grobe Sand knirscht unter ihren Schuhen, das Kleid raschelt. Anna ist sie selbst und zugleich jemand anders. Unter ihren Schritten tut sich eine neue Stadt auf, die mit der eigentlichen verwoben ist. Sie kann sie in diesem Moment nicht klar voneinander unterscheiden. Sie bestellt die gute alte Vanille, die Verkäuferin ist wie geschaffen für ihren Job, sie lächelt sonnig. Flinke Hände, sorglose Augenbrauen. Nicht eine Spur von Ernst in ihren Bewegungen. In ihrem Blick nichts als kommende Sommertage. Anna wundert sich über sich selbst: Seit wann isst sie Vanilleeis?
    Erwartung liegt in der Luft. Die Möwen sind schon da, eine zweite Verkäuferin verscheucht sie von den Tischen. Ein Anzugträger hat sich in vornehme Eile gehüllt, steuert ein Bürogebäude auf der Nordesplanade an. Wie lächerlich, an einem Tag wie diesem seinen Aktenkoffer zu schwenken, sich mit dem Handy am Ohr wichtig zu machen. Anna muss an den Eifer eines Kindergartenkindes denken, das Bankschalter spielt.
    Saara spricht träge von ihren Plänen für den Sommer, von einem Essay, dessen Benotung noch aussteht, von dem Buch, das sie gerade liest.
    »Ich bin mir sicher – diesen Sommer passiert etwas«, sagt sie. »Es muss einfach etwas passieren.« Sie betont jedes Wort, so dass ein Außenstehender es nicht für Überzeugung, sondern Verzweiflung halten könnte.
    »Klar, im Juni wird die Welt abgerissen und eine neue

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