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Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
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Paris gehen.
    Die Autos hatten gehupt, er war über die Straßen gerannt, hatte den siedenden Eifer in jeder einzelnen Zelle gespürt, dazu die bestürzende Einmaligkeit und die beständige Wandelbarkeit jeder dieser Zellen, die unter seiner jungen Haut lagen. Er hatte sich für jede entgegen­kommende Frau begeistert, pries jeden verlumpten Penner, jedes Stückchen Papier, das im Rinnstein lag. Zu Hause stand er atemlos auf der Wohnzimmerschwelle. Seine Mutter sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Hast du dich verliebt?«
    Er dachte an Helvi und an die Künstler aus dem Museum, Helene Schjerfbeck und Albert Edelfelt und Hugo Simberg, und an die Frau, die ihm eben auf der Straße zugelächelt hatte. Er rief sich Helena aus der Klasse über ihm ins Gedächtnis, den ungenierten Ausdruck ihres Mundes, den er schon so oft angeschaut, aber noch nie gezeichnet hatte, weil ihm die Technik, der Mut und das Auge dafür fehlten. Jetzt war alles da.
    »Nein«, antwortete er. »Ich weiß jetzt, was aus mir werden wird: Ein Künstler, und ich gehe nach Paris.«
    »Hui«, hatte seine Mutter gesagt. »Dann geh mal schnell in die Küche, dein Teller steht noch auf dem Tisch. Selbst der beste Künstler schafft es nicht hungrig nach Paris.«
    Er war noch immer dieser Junge, blitzte es in ihm auf. Und der Gedanke ging weiter: Nur Elsa sah bis heute diesen Jungen in ihm. Auch Eeva hatte ihn gesehen, aber Eeva hatte er losgelassen. Jetzt gab es nur noch Elsa. Nach Elsa würde es niemanden mehr geben.
    Sein Blick nahm die hoffnungsvollen Wiesen hinter der Windschutzscheibe auf, den blauen Himmel. Martti fertigte in Gedanken eine Skizze an. Das brachte ihm Trost.
    Als er ankam, lag das Haus im Schlummer, das Grün der Bäume war noch zart. Obwohl die Erde kühl war, zog er die Schuhe aus. Er öffnete die Tür zum Schuppen. Alles an seinem Platz, wie es zu sein hatte. Er registrierte die angenehme Erschöpfung im Anblick der vielen Gegenstände – den kleinen Bruder der Begeisterung und Erwartung. So viele Dinge. Begonnene Bilder, Skizzen, alte Tennisschläger, Werkzeug, Plunder. Er ging zur Sauna. Die Tür musste er mit Gewalt aufreißen, sie hatte sich im Winter verzogen. Mit einem lauten Knall sprang sie auf. Im Innenraum stieg ihm der vertraute Geruch von Seife und Birke in die Nase. Er trug die kleine Bank, die er gebaut hatte, auf die Veranda vor der Sauna. Dabei stellte er fest, dass dort eins der Bodenbretter nachgab, und entdeckte die faulige Stelle nahe der Wand. Wenn die Nässe bis in die Wand eingedrungen war, müsste man sie abreißen und erneuern. Doch er wollte jetzt nicht über Renovierungen nachdenken.
    Es war ein ruhiger Maitag, vor ihm lag der See. Endlich kehrte Frieden in ihm ein. Er ließ den Gedanken zu, der schon tagelang in greifbarer Nähe gewesen war. Eeva an der Tür, wie er sie zum ersten Mal gesehen hatte: lächelnd, ein wenig unschlüssig. Hatte die Liebe sofort begonnen?
    Als es schon eine Weile währte, wurde ihm klar, dass Liebe für Eeva Hingabe bedeutete, einen Schritt fort von der eigenen Person. Vielleicht war das der Riss in ihr: die Unfähigkeit, sich auf dem Weg zum anderen selbst zu bewahren. Ebenso gut konnte es auch der Riss in ihm sein: die Unfähigkeit, Hingabe anzunehmen. Er erinnerte sich an den Streit aus ihrem letzten gemeinsamen Jahr.
    »Du bist unmöglich! Wie soll man dich lieben, wenn du dich aufgibst, sobald du selbst liebst!«
    Eeva hatte ruhig, beinahe kühl reagiert: »Du kannst von mir nicht verlangen, gemäßigt zu lieben. Da könntest du auch gleich verlangen, dass ich mich in einen Stein verwandle.«
    Womöglich war es dieser Zusammenstoß, der in die Zerstörung führte. Er rief sich Eevas Züge in Erinnerung. Das hatte er Jahre nicht mehr getan, obwohl er hin und wieder an Eeva gedacht hatte. Jetzt setzte er sie Stück für Stück wieder zusammen. Ihr Mund war klein, aber voll. Die Knie schüchtern, mädchenhaft. Beine, die man staksig nennen konnte. Er hatte ihre Beine geliebt, das unschuldige Weiß ihrer Schenkel. Die rastlosen Hände, die sorglosen Arme – Eeva hatte beim Denken und Sprechen oft mit den Armen geschlackert. Ihre Brüste waren staunende Knospen gewesen, zumindest am Anfang, im ersten Jahr, als Eeva erst zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig war.
    Sein Handy klingelte. Er musste in die Gegenwart zurückkehren, schaute zu den Spitzen der Nadelbäume auf der kleinen Insel im See. Diese Zickzacklinie hatte bereits existiert, als er Eeva mitgebracht hatte.
    Es war

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