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Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
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Prognosen man hören wollte, dessen Blick man auf sich ziehen und mit dem man über letzte Wahrheiten sprechen wollte. Alle versuchten, sich einen Teil von ihm zu sichern. Seine Aufmerksamkeit war ein Geschenk. Wenn er einen ansah, kam es einem vor, als habe man erst in diesem Moment zu seiner wahren Gestalt gefunden. So sind die Künstler: Sie besitzen die Macht des Blickes, sie entwickeln die gewichtigsten und prägnantesten Ansichten, setzen um, was andere auf halber Strecke liegenlassen, an Haltestellen und Straßenkreuzungen oder in verhaltenen Nebensätzen.
    Nun fehlt Anna nur noch Eevas Stimme. Der Baum über ihnen trägt seine Blüten, als habe er sie erst gestern erfunden. Dabei ist nichts Neues an ihnen, und doch werden sie nie so prall und frisch sein wie jetzt. Eeva hat genau diese Tage erlebt. Diese Aufbruchstimmung, die Ungeduld, die Sehnsucht, an einen Ort oder in eine Zeit zu gelangen, in der das Leben sich einem noch praller darbietet. Und dann: Eeva lebte die Liebe, dieselbe Liebe, wie Anna sie gelebt hat. Alles geben und dafür die ganze Welt bekommen – daran hat Eeva geglaubt. Genau danach hat sie gelebt, mit dem Kind, mit dem Mann.
    Anna hat nicht vorgehabt, Saara von Eeva zu erzählen. Aber Eeva ist da und verlangt nach ihrer Geschichte. Annas Stimme klingt anders, ihre ersten Sätze sind weicher und zugleich voller.
    1964
    So fängt alles an. Hier bin ich. Ich stehe vor der Tür, gleich drücke ich auf die Klingel. Als alles beginnt, gibt es erst wenige Parolen, aber die Pille ist bereits erfunden. Alle wollen wissen, wie die Dinge wirklich ablaufen, dennoch sind die Rocksäume noch angemessen lang, und in den Ställen muhen die Kühe.
    Als alles beginnt, bin ich zweiundzwanzig. Ich habe die Hälfte des Studiums geschafft, erlebe lange sorglose Abende in Gaststätten. Manchmal habe ich Heimweh nach Kuhmo und seinen dunkelrot gestrichenen Holzgebäuden; dort leben meine Eltern und ihre zehn Kühe auf einem kleinen Hof. Wo ich herkomme, wird die Milch melkwarm getrunken, sie fließt direkt aus dem Euter in die Kanne. Im Mund bleibt eine fettige Schicht zurück.
    Als alles beginnt, lebe ich zwischen zwei Welten. Da ist Helsinki, mit den letzten Münzen gekaufter Wein, mein großzügig und arglos verschenktes Lächeln in den Kneipen, Küsse mit jungen Männern in Treppenhäusern, meiner Mutter zum Trotz. Ich trage billige Schuhe und wohne mit meiner Freundin Kerttu in einer Wohnung in der Liisankatu. Und da ist Kuhmo, die Wiese und der See und der Waldweg, den meine Fußsohlen genau kennen. Ich habe Heimweh, liege ganze Nächte im Schein der Straßenlaterne wach und weine, sehne mich nach der satten Wiese, dem nächtlichen Schwimmen im See, dem einfachen Essen meiner Mutter, gestärkter Bettwäsche und der Zeit, als ich noch neunjährig die Schulstunden verträumte.
    Aber wenn ich diese Welten 1964 einander gegenüberstelle, ist Helsinki die wahre. Hier lebe ich, besuche Vorlesungen, gehe durch die Straßen und treffe Menschen, die oft auch Freunde von Kerttu sind, denn Kerttu kennt praktisch alle jungen Menschen in dieser Stadt, die eine Meinung zu verkünden haben.
    Ich verdiene mein Geld mit einer langweiligen Arbeit in der Hutabteilung eines Kaufhauses und habe Pläne, von denen sich noch nicht einer verwirklicht hat. Nicht, dass ich es eilig hätte. Noch halte ich mich in meinen Träumen auf, in diesen Jahren, in denen man noch unbesorgt im Warten aufgehen kann, denn die Zahl der Tage scheint endlos. Den ganzen letzten Herbst und Winter habe ich die Imperative meiner Kollegin Vieno über mich übergehen lassen, die aus mir eine Dame machen will. Sie benutzt Wörter wie Büste und Gesäß, Keuschheit und Takt. Doch ich möchte kein Gesäß haben, möchte keins dieser alten Wörter auf mich anwenden. Ich möchte mich selbst erfinden.
    Und deshalb stehe ich hier, vor dieser Tür. Es ist Mai, die Bäume sind nichts als ein kahles Gestrüpp aus Ästen, obwohl es bereits wärmer geworden ist. Ich bin zwei Blöcke zu Fuß gegangen, kleine Schweißperlen kribbeln mir im Nacken. Ich bin aufgeregt. Das Schreiben, das in der Uni am schwarzen Brett hing, klang schlicht: Familie sucht liebevolles Kindermädchen, das kochen kann. Bitte abends anrufen.
    Ich rief punkt sechs an und war mir sicher, dass der Zettel für mich persönlich bestimmt war. Natürlich bin ich liebevoll. Manchmal rinnt mir die Zärtlichkeit fast aus den Fingerspitzen, wie Honig, dickflüssig und süß. Meine Kochkünste sind

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