Wahr
gebaut«, sagt Anna.
Sie muss so antworten, obwohl sie in Wirklichkeit Angst hat vor großen Veränderungen, wie Saara sie sich wünscht. Anna wäre gern für immer die Sechzehnjährige geblieben, die bei Saara übernachtete. An diesen Abenden warfen sie die Anforderungen des Erwachsenwerdens über Bord, kauften Kuchen und Popcorn und Pizza und Haribos, sahen zwei Mal hintereinander Dirty Dancing und tanzten mit, wenn Johnny und Baby auf dem Baumstamm über dem Fluss probten. Eigentlich war ihr Tanz eher ein träges Trudeln mit vollen Bäuchen, an dessen Ende sie kichernd am Boden lagen.
»Was gibt’s Neues bei dir?«, fragt Saara. »Wie läuft es mit deiner Arbeit? Hast du schon Feminine Mystique gelesen?«
»Ja, aber ich muss noch viele andere Quellen sichten und das Thema an konkreten geschichtlichen Beispielen festmachen, die zweite Welle der Frauenbewegung reicht nicht aus. Zu Hause stapeln sich die Bücher, nur irgendwie fehlt mir die Motivation.«
Anna denkt an Eeva. Sie hat nicht vorgehabt, Saara von ihr zu erzählen, doch Eeva lässt ihr keine Ruhe. Sie ist da, ganz in Annas Nähe. Oder nein – Eeva ist in Anna. Seit sie ihr Kleid trägt, lässt sie sich nicht mehr vertreiben.
Saara streckt sich auf dem Rasen aus, schließt die Augen. Sie sieht erstaunlich jung aus. Noch immer wie das Mädchen, das in der ersten Schulwoche der Oberstufe vor ihr stehen blieb, ihr einen Walkman-Ohrstöpsel reichte und sie mit gurrender Stimme ansprach. Anna spürte diese Stimme als kleines Ziehen im Unterleib, obwohl sie nie an Mädchen interessiert war. »Hör dir das mal an.«
Oh don’t be shy, let’s cause a scene, like lovers do on silver screens, let’s make it yeah, we’ll cause a scene.
Von da an gingen sie überall zu zweit hin und badeten in dem Gefühl, das neue Freundschaft mit sich bringt: Aufgekratzte Dankbarkeit und der Glaube daran, dass die gemeinsam erschaffene Wirklichkeit sich immer nach ihren Spielregeln richten wird. Ein Jahr später marschierten sie mit erhobenen Häuptern auf der Demo gegen den Irakkrieg mit, glaubten, sie könnten die Welt verändern. Braucht es mehr zur Veränderung? Freundschaft, naiver Glaube, Vertrauen? Anna kommt es vor, als sei das erst gestern gewesen, und zugleich, als läge es zehn Jahre zurück.
Ehe sie in die Pengerkatu zog, wohnte sie ein Jahr lang mit Saara in der Liisankatu. Ihre Abende wollten nicht enden, waren voll Musik und Diskussionen, sie beide am Küchentisch, die Türen weit offen für Gäste. Ihre Frühstücke zogen sich hin, kippten in Streitgespräche, sie drehten die Musik noch lauter, scherten sich nicht um die Blicke der Nachbarn im Treppenhaus. Jetzt wohnt eine andere Freundin mit Saara in der Wohnung.
Saara lächelt, noch immer mit geschlossenen Augen. Aus Annas Blickwinkel sieht sie aus wie eine Frauenfigur von Picasso, zerklüftet, splittrig, auf der Suche nach der eigenen Gestalt. Neben Saara fühlt Anna sich unmodern, ungeschickt. Irgendwie altbacken und langsam. Saara hat dieselben Träume wie sie, aber nicht die Ängste, die sich ihr in den Weg stellen. Saara lebt das Leben, das Anna verwehrt ist, weil ihr der Mut fehlt.
Anna denkt wieder an Eeva. Was weiß sie von ihr? Sie kennt nur ein paar wenige Fakten. Eeva stammte aus Kuhmo und kam nach Helsinki, um französische Philologie zu studieren. Anna malt sich ein Bild aus. Eeva zog beim Lesen die Augenbrauen zusammen und die Stirn kraus, sah ein wenig besorgt aus. Sie hatte kleine Hände, im Winter war sie oft verschnupft. Ein untilgbarer Ernst lag in ihren Augenwinkeln. Beim Brotschneiden, Abwaschen oder Haarekämmen vergaß sie sich selbst und verlor sich ganz in der Bewegung, so dass sie entspannt, schläfrig und glücklich wirkte, wie Frauen auf den Gemälden um 1900. Wie die Frauen von Helene Schjerfbeck. Wenn sie lachte, sah sie kurz erschrocken aus. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte man Panik in ihrem Blick zu erkennen, dann brach sich das Lachen Bahn. Anna hat ein deutliches Bild der Frau im Kopf, dazu den Beginn einer Geschichte: ein Mann, ein Kind. Der verwirrend helle Nacken des Kindes, das Vertrauen. Der Mann war einer der begehrtesten seiner Zeit. Nicht der allergrößte Vorkämpfer, nicht der Provokanteste, aber einer der Begabtesten und unbestritten einer, der Schönsten. Er war intelligent und charmant, einer, an dessen Tisch man sich unbedingt dazusetzen wollte, um den ganzen Abend nicht mehr aufzustehen. Mit dem man über die Zukunft sprechen wollte, dessen
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