Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
Vom Netzwerk:
»Schade um das, was ich unterlassen habe. Was ich getan habe, bereue ich allerdings nicht. Solange man kein Verbrechen begangen hat, hieße seine Taten zu bereuen doch, sein Leben zu bereuen.«
    Martti trat für einen Moment aus der Situation heraus und registrierte, wie eigenartig sie war. Aber wem sonst hätte er von diesen Dingen erzählen sollen? Niemandem, den er kannte.
    »Was will deine Frau jetzt noch?«, fragte die Frau.
    »Was meinst du damit?«
    »Was möchte sie machen?«
    »Sie möchte jeden Tag das Meer sehen. Vorhin hat sie vom Schwimmen geredet, obwohl ich nicht glaube, dass sie noch die Kraft dazu hat. Sie will den Morgen erleben und den Abend. Vielleicht will sie nochmal in unser Sommerhaus fahren.«
    »Dann musst du genau das tun. Sie ans Meer fahren, sie schwimmen lassen, selbst wenn es ein Risiko ist, und sie den Morgen und den Abend erleben lassen. Und ihr solltet ins Sommerhaus fahren. Das genügt«, sagte die Frau lächelnd.
    »Und du? Was willst du noch machen?«, fragte Martti.
    Die Antwort kam prompt: »Ich will mit meiner Tochter Pfannkuchen backen, in unserem Sommerhaus am Saimaa-See. Nach meinem Lieblingsrezept. Einen esse ich mit Zucker, einen mit Marmelade. Danach will ich am Ufer sitzen, nähen und auf die Seenlandschaft blicken.«
    »Dann wirst du genau das bald machen. Pfannkuchen essen und nähen.«
    »Ja«, erwiderte die Frau. »Sobald ich hier rauskomme.«
    Wie auf Vereinbarung standen sie gleichzeitig auf und sahen sich an wie zwei, die einander aus einem merkwürdigen Zufall heraus alles offenbart hatten. Das Lächeln der Frau prüfte seine Loyalität, bat um Geheimhaltung. Martti erwiderte es.
    Der Arzt erklärte ihn für kerngesund: »Sie haben die Werte eines Sechzigjährigen.« Er erkundigte sich höflich nach Elsa, doch Martti hatte sein Herz bereits im Café geöffnet und sagte nur das Nötigste.
    Als er aus dem Krankenhaus ging, überfiel ihn von irgendwoher pure Freude, noch immer genauso wie schon als kleiner Junge, an Geburtstagen, wenn er die zähen Stunden des Vormittags herumgebracht hatte und sich sicher war: Was auch immer seine Eltern ihm schenken würden, das Geschenk spiegelte auf geheime Weise seine, Marttis Besonderheit. Und wenn das Geschenk sich als kleines Blechflugzeug entpuppte, was ihn ein wenig enttäuschte – er verstand schon damals, dass bereits die Erwartung eine Art von Geschenk war.
    Er holte tief Luft und ließ seinen erregten Körper von Ruhe durchströmen. Und die Ruhe kam. Eigentlich hatte er Elsa und Anna angekündigt, den ganzen Nachmittag fortzubleiben. Sollte er jetzt ins Restaurant oben im Torni-Hotel gehen, einen Kognak trinken und die Aussicht genießen? Oder zum Flughafen fahren und die Maschinen beobachten, die faszinierende Beschleunigung beim Start?
    Den Gedanken an das Sommerhaus in Tammilehto hatte er schon eine Weile verdrängt; diesen Winter war das Haus leer geblieben. Normalerweise liefen Elsa und er regelmäßig Ski, sobald der See zugefroren war, übernachteten schon im März mit Schlafsäcken in einer Ausflugshütte. Und im April schrubbten sie die Sauna und holten die Gartenutensilien hervor. Nicht so diesen Frühling. Elsas Kondition war eine andere, vielleicht wäre ein Ausflug auch zu melancholisch gewesen.
    Aber jetzt wollte er keine Zeit mehr verlieren. Am liebsten würde er sofort aufbrechen, an der Tankstelle Halt machen, mit dem Nachbarn plaudern, der während ihrer Abwesenheit nach dem Sommerhaus sah. Er wollte der Stille im alten Schuppen lauschen, dem Rauschen des Waldes hinter dem Haus, wollte die Aussicht aus der Sauna über das Wasser genießen. Vielleicht hing es mit Eeva zusammen. Mit ihrem Namen, den er laut ausgesprochen hatte. Er wollte an einem Ort sein, an dem er seine Gedanken zu Ende denken konnte. In der Stadt war das nicht möglich, hier war er zu stark mit dem Alltag verflochten. Mit Elsa.
    Die Strecke kannte er seit Jahrzehnten. Wie immer hielt er an der Tankstelle. Er beschleunigte auf hundertdreißig, Freude sprudelte in ihm auf, das passierte häufig beim Autofahren. Er ließ die Freude hinausstrahlen, wie schon als Fünfzehnjähriger, als er nach der Schule ins Ateneum gegangen war, die Gemälde gesehen und die enorme Verblüffung über ihre Schönheit und Genauigkeit erfahren hatte, und dann ins gleißende Außenlicht getreten war und die Welt in sich pochen fühlte. Der Moment der Klarheit: Er beschloss, Malerei zu studieren, gut darin zu sein, außergewöhnlich gut. Er würde nach

Weitere Kostenlose Bücher