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Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
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gegönnt ist. Einen Tag, an dem man aufstehen, hinausgehen und das Wetter spüren darf, das Mittagessen planen oder eine Verabredung treffen darf oder auch nur von einen Spaziergang träumen darf.
    Er holte sich einen Kaffee, setzte sich und beobachtete die anderen Gäste. Das Gespräch der Frauen am Nebentisch drehte sich um einen Ausflug aufs Land. Eine von ihnen musste krank sein, welche? Heimlich sah er sie der Reihe nach an. In einer Trage lag ein Baby, vielleicht waren sie alle wegen des Babys im Krankenhaus?
    Er ertappte sich bei einem Tagtraum, in dem er mit Elsa ins Sommerhaus nach Tammilehto fuhr. Sie könnten noch einmal dort schlafen, saunieren, den Morgen sehen, Kaffee kochen. So wie früher.
    »Darf ich mich setzen?«
    Es war die kahle Frau aus dem Wartezimmer. Er lächelte, wies auf den Stuhl gegenüber.
    »Ich liebe diese Tage Ende Mai«, sagte die Frau. »Sie auch?«
    Martti fand es fast ein wenig amüsant, einer fremden Person gegenüber so starke Gefühle zu bekunden. Aber es stimmte. Natürlich liebte er diese Tage, diese offenen, grünen, von Erwartung durchfluteten Räume. Er überlegte kurz, ob er die Frau in so einer Situation duzen oder siezen sollte. Die Frau war schön. Augen wie kleine Seen, geschwungene Lippen. Aber krank, das sah man am fiebrigen Glanz der Haut und an den Schlüsselbeinen, die wie zwei quergestellte Taktstöcke aus dem mageren Körper ragten.
    Wegen ihrer Krankheit entschied er sich fürs Siezen. Vielleicht auch wegen ihrer Schönheit. »Sie wären sicher lieber draußen? Es ist ein herrlicher Tag.«
    »Ich sterbe. Das sehen Sie, oder?« Sie sah ihm fest in die Augen, rührte in ihrem Kaffee.
    Dies war die Zone der wahren Sätze. Aus irgendeinem Grund sagten die Menschen hier – wo ein Herz Herz, eine Lunge Lunge, ein Wunsch Wunsch, aber ein akademischer Titel noch weniger war als ein Gerücht – viel öfter Sätze, die absolut wahr waren.
    »Meine Frau stirbt auch«, antwortete er, als wäre das die einzig passende Erwiderung. Auf einmal kam ihm dieser Satz ganz leicht über die Lippen. Vorher hatte er die Trauer gefürchtet, die von dem Satz ausging; jetzt hörte er sich nur noch nüchtern an.
    »Wie viel Zeit hat sie noch?«, erkundigte sich die Frau.
    »Das haben sie uns nicht gesagt. Aber bis nach Mittsommer, vielleicht bis Ende Juli, wenn wir Glück haben.«
    Die Frau sah aus dem Fenster. »Waren Sie glücklich?«
    Er musste mit der Antwort nicht zögern. »Ja. Mir ist erst jetzt klar geworden, dass wir sogar sehr glücklich waren.«
    »Das kapiert man nur im Nachhinein«, sagte die Frau.
    Ihre Handgelenke waren schmal wie Zweige, ihre Augenbrauen hatte sie vermutlich nachgezogen. Die Augen waren kräftig geschminkt. Auf einmal hatte Martti das Gefühl, als würde er mit einer Zirkusartistin sprechen, einer Seiltänzerin oder einem weisen Clown.
    »Und?«, fragte die Frau. »Was war das Schwierigste?«
    Er überlegte einen Moment. »Das Schwierigste war zu sehen, wie der andere sich verändert. Man muss den anderen immer wieder neu sehen, neu kennenlernen. Und man bekommt gespiegelt, dass man sich mit den Jahren selbst verändert.«
    Die Frau nickte. Sie war mit seiner Antwort zufrieden, sie war unumstößlich, wahr. »Was noch?«
    Er hörte seine Antwort. Aus irgendeinem Grund war es furchtbar einfach, diesen Satz zu sagen. »Am Schlimms ­ten war es, als ich eine andere geliebt habe.«
    Die Frau schien nicht überrascht, nickte nur. »Wie hieß sie, die andere?«
    »Eeva.«
    Da war er, der Name. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten hatte er ihn wieder ausgesprochen. Das weckte Erinnerungen; es waren einzelne Bilder: Eeva in der Sauna beim Haarewaschen. Eeva mit müden, geschwollenen Augen. Eeva im Zorn, rot angelaufen und erblasst zugleich. Er ließ die Erinnerungen kommen, auch wenn sie schmerzten.
    Auch die Worte kamen, er redete drauflos oder vielmehr schien es ihm, als quollen sie aus ihm heraus: »Ich habe niemanden so geliebt wie sie. Obwohl ich heute denke, dass es nur ein großer Traum war. Wahrscheinlich habe ich meine Frau genauso geliebt, aber eben auf andere Art. Die Liebe zu ihr ist die Wirklichkeit.«
    »Sag das nicht«, protestierte die Frau und wurde hitzig, wechselte vor Erregung vom Sie zum Du, verschüttete sogar etwas Kaffee. »Liebe ist immer Wirklichkeit. Für einen selbst ist sie immer wahr.«
    Er sah sich folgsam nicken, als hätte er einen Befehl entgegengenommen.
    »Ich bereue, dass ich nicht noch mutiger gewesen bin«, sagte die Frau.

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