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Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
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sagt ihre Mutter erheitert.
    Sie kennt die Nuancen dieser Stimme: Ihre Mutter spornt sie eher noch an, als dass sie sie bremst.
    »Wäschst du mir den Rücken?«, fragt ihre Mutter.
    Alles ist von gutem Willen durchdrungen. Die Wände, die Waschschüssel, das Seifenstück, das allen Moden zum Trotz beharrlich mintgrün ist. Ihre Mutter setzt sich vor sie hin. Ihr Rücken wirkt demütig. Man sieht, dass sie ihre eigenen Sorgen nicht herausposaunt, aber die der anderen reichlich auf sich lädt.
    »Du bist ganz schön schmal«, sagt Anna beiläufig.
    Sie lässt heißes Wasser aus dem Blechbehälter des Saunaofens laufen, gibt einen Spritzer Sumpfrosmarin- und Jasminaroma mit in die Waschschüssel. Das Material des Massagehandschuhs ist fest und steif, sie streift ihn sich über, tunkt die Hand ein und wartet, bis die Finger innen nass werden. Von oben nach unten massiert sie, lange ruhige Bewegungen. Gleichzeitig erinnert sie sich: Als Kind wachte sie einmal mit flauem Gefühl auf und musste sich übergeben, gerade als sie zum Kindergarten gehen wollten. Ihre Mutter legte sie ins Bett und massierte ihr den Rücken. Friedliche große Kreise, die Übelkeit zog sich langsam zurück.
    Sie könnte den Rücken ihrer Mutter genau aufzeichnen. Zwei Muttermale ziemlich weit unten, und auf dem rechten Schulterblatt eine Narbe, die sie sich bei einem Brand in Tammilehto zugezogen hatte. Anna streicht vorsichtig über das vernarbte Gewebe. Als Kind wollte sie die Geschichte wieder und wieder hören; sie war fast so aufregend wie die Geschichte ihrer eigenen Geburt. Dass ihre Mutter auch mal ein Kind war – allein das schien unbegreiflich. Und obendrein noch ein Kind in Not, ihre kleine Mutter!
    »Wer hat dich gerettet?« Diese Frage stellte Anna jedes Mal.
    »Papa. Er ist reingestürmt und hat mich aus dem Qualm geholt.«
    »Gerade noch rechtzeitig, gerade rechtzeitig, bevor –?«
    Der Satz ließ sich nicht zu Ende bringen, aber man musste ihn beginnen, so unglaublich, wie er war: ihre Mutter, die noch keine Mutter war, als Kind, in Lebensgefahr.
    »Und wo war Großmutter?«
    »In der Sauna.«
    »Sie hat nicht gesehen, dass das Haus brennt?«
    »Nein.«
    »Und was ist dann passiert?«
    »Dann wurde ich ins Krankenhaus gefahren. Mama und Papa haben an meinem Bett gesessen, als ich aufgewacht bin, und Mamas Gesicht – ich habe nie wieder so eine Erleichterung gesehen.«
    »Und das Sommerhaus ist richtig abgebrannt? Bis auf den letzten Balken, so dass man es neu bauen musste?«
    »Nein, nicht bis auf den letzten Balken.«
    »Aber fast, es war kurz davor, oder? Und du hast diese Narbe bekommen, ein Schutz gegen alles Böse, und jetzt kann dir nie wieder etwas Schlimmes passieren, nicht wahr?«
    Wer weiß. Vielleicht ist sie wirklich ein Schutz. Anna fährt mit dem behandschuhten Zeigefinger ganz vorsichtig die Ränder des narbigen Gebietes ab.
    »Tut die manchmal weh?«
    »Ja. Wenn ich zu lange in der Sonne bin«, antwortet ihre Mutter mit ruhiger, ermatteter Stimme, in sich selbst und den Moment versunken.
    »Du musst sie eincremen«, sagt Anna. »Ich mache das nach der Sauna, wenn du dich abgetrocknet hast.«
    Wie klein ihre Mutter ist, wie ein Vogel, kauernd, die Arme über Kreuz um den Körper geschlungen.
    »Habe ich dir eigentlich von der Frau erzählt, die bei unserer Istanbulreise in der Hagia Sofia auf mich zugekommen ist?«, fragt sie.
    »Nein. Du hast nur von den Mosaiken erzählt, und von den Moscheen, die zwischendurch mal Kirchen und dann wieder Moscheen waren. Und Papa hat noch Wochen später Vorlesungen gehalten.«
    Anna ahmt seinen professoralen Ton nach, seine Art, einzelne Details begeistert in große Zusammenhänge zu betten. »Nirgendwo sonst in Europa ist Europa so sehr bei sich selbst und zugleich so sehr Karikatur. Fußball turniere, Kirchen, Moscheen, Cafés, egal wo du hingehst, überall Stoff für spontane Analysen. Man muss an die Ränder reisen, um die Mitte zu erkennen.«
    Ihre Mutter lacht. »Gut getroffen. So hat er übrigens schon vom ersten Tag der Reise an doziert.«
    Anna sieht ihre Mutter im Profil. Wenn sie lacht, hat sie etwas Kindliches, und als die Rede auf ihren Vater kommt, kräuseln sich ihre Augenwinkel zärtlich.
    »Dein Vater wollte noch in der Hagia Sofia bleiben, aber ich musste raus, zur Toilette. Als ich in der Schlange meinen Pullover ausgezogen habe, kam diese Frau auf mich zu. Ich glaube, sie war Amerikanerin, ihr Englisch klang so. ›Sie tragen ein Kreuz auf ihrer Schulter,

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