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Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
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Ihnen muss etwas Schreckliches passiert sein‹, hat sie gesagt.«
    »Seltsam.«
    Ihre Mutter verstummt, lehnt sich dem Druck von Annas Hand entgegen, wie eine Katze ihrem Streichler.
    Ihre nassen Spuren auf dem grauen Holz des Steges. Anna läuft bis ans Ende vor, die Bretter knarren vertraut. Hinter ihr ihre Mutter, noch immer zugleich anspornend und mäßigend:
    »Schwimm nicht so weit!«
    Das Wasser ist kalt, raubt ihr für einen Moment den Atem. Der Schock löst sich in lautem Lachen, das über den See hallt. Am Himmel ein frühsommerlicher, scheuer Mond, ihr Lachen steigt bis zu seiner schief hängenden Sichel. Sie schnappt nach Luft, planscht sich warm und spürt, wie ihr Körper die Wassermassen durchtrennt.
    »Ist es kalt?«, ruft ihre Mutter neugierig.
    Kalt, alt, wiederholt der Wald.
    Anna weiß nicht, wann sie zum letzten Mal so mutig war. Ihre Mutter hinter ihr auf dem Steg, sie hier, im Schoß des Wassers, so sicher wie in einer Fruchtblase, und doch der Welt ausgeliefert, weit weg von ihrer Mutter.
    »Ja!«, ruft sie.
    »Dreh um!«, bittet ihre Mutter.
    »Gleich«, ruft sie, ohne zurückzuschauen.
    Irgendwann dreht sie um, sie ist überraschend weit geschwommen. Sie macht lange Züge, durch kalte und ­weniger kalte Wasserareale, als würde sie aus einem Unterwasser-Zimmer ins nächste gleiten. So muss es als Fisch sein! Der Gedanke kommt unvermittelt, als kuriose Gewissheit. Sie steigt die Leiter hoch, ihre Mutter streckt die Hand aus, sie greift zu. Für einen Moment gibt es nichts anderes. Nebeneinander stehen sie auf dem Steg. Der Sommer atmet. Der See regeneriert sich von seinem Gast, wird wieder glatt wie zuvor. Die Stille schwingt in ihren unsichtbaren Scharnieren aus, die Landschaft sinkt zurück in ihren selbstvergessenen Schlaf.
    »Gut«, sagt ihre Mutter. »Und jetzt zurück nach drinnen.«
    Der Polartaucher ist schon da, markiert sein Revier mit leisen Rufen. Der Fußboden im Umkleideraum knarrt, hinter dem Fenster zieht die Dämmerung auf. Anna drückt einen dicken Strang aus der Cremetube und bestreicht die Narbe ihrer Mutter. Diese hält die Haare hoch, beugt den Kopf leicht vor, die Brüste sinken gehorsam nach unten.
    »Ist die Stelle rot?«, fragt sie.
    »Ein bisschen«, antwortet Anna.
    Die Creme tritt auch aufs gesunde Gewebe über, Annas Finger gleitet fettig über das Schulterblatt. Diese Gefühle füreinander entstehen sehr früh, vielleicht keimen sie schon auf, wenn die Haut sich zum ersten Mal von der anderen Haut getrennt hat, wenn der Mund zum ersten Mal nach der Brust sucht. Jetzt spürt Anna es mit voller Wucht: Wie es ist, Sorge, Angst und Stolz für genau diesen einen Menschen zu empfinden, Eleonoora Ahlqvist, Ella.
    »Gut so?«, fragt sie.
    Eleonoora nickt. »Du machst das, als wärest du schon Mutter.«
    Anna schweigt, die Bewegungen von Zeige- und Mittelfinger werden eine Spur schneller. Kleine Kreise, die Creme heftet sich als durchsichtige Schicht auf die Haut. Sie hofft, dass ihre Mutter nicht nachfragt, aber sie tut es:
    »Hast du dieses Mädchen mal wiedergesehen? Linda?«
    Wie leicht ihr das über die Lippen geht. Dieses Mädchen. Linda.
    »Habe ich nicht. Nein.«
    »Hatte sie nicht irgendwann in diesen Tagen Geburtstag?«
    »Nächste Woche.«
    »Wie alt wird sie?«
    Ihre Mutter redet, als würde der Kontakt noch bestehen. Linda wird auch dieses Jahr irgendwo die Kerzen auf dem Kuchen auspusten. Ihre Mutter wird lächeln und sagen: »Toll, alle auf einmal ausgepustet, du bist schon ein großes Mädchen.« Doch das alles findet in ­einer anderen Wirklichkeit statt.
    »Fünf«, antwortet Anna. »Sie wird dieses Jahr fünf.«
    Sie muss sich kurz abwenden; die schwarze Tinte dringt in sie ein wie in ein offenes Gefäß. Als Linda drei wurde, hatte sie ihr im Vergnügungspark Zuckerwatte gekauft. Jetzt ist es, als wäre das damals nicht sie, sondern jemand anders gewesen. Anna zieht ihre Unterhose an, die Jeans.
    Ihre Mutter hebt den Kopf, sieht sie forschend an. »Soll ich dir einen Zopf flechten?«, fragt sie. »Danach hast du Locken wie früher.«
    »Gerne«, antwortet Anna und lächelt.
    Sie setzt sich auf den Holzhocker. Ihre Mutter teilt ihre Haare in drei dicke Strähnen. Jetzt ist sie wieder sie selbst. Und ihre Mutter ist ihre Mutter, zielstrebig, mit sicheren Händen.
    Sie garen den Fisch in der Kaminglut, lassen ihn mit Olivenöl, Pfeffer und Salz in Alufolie schwitzen. Ihre Mutter macht aus Butter und Zwiebeln eine Soße für die neuen Kartoffeln. Die

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