Wahr
erste Reihe zu einem Jungen, der nach Brillantine und Rotwein riecht. Ich kenne ihn von der Uni, er heißt Tapio. Er hat mir mal in der Staatslehre-Vorlesung einen Kugelschreiber geliehen und gemeint: Ich sag’s dir, Rousseau wird wieder brandaktuell.
Die Reden beginnen, alles ist wie im Parlament, nur die Leidenschaft und der Taillenumfang der Redner unterscheiden sich deutlich. Ein Mann im Samtjackett reibt sich seine Geheimratsecken und spricht von Mao.
»Sind die für China?«, frage ich Kerttu leise. »Müssen die da nicht hungern?«
»In Afrika, nicht in China«, flüstert sie. »Hör einfach nur zu.«
Beim Thema Vietnam haben alle dieselbe Meinung. Ein Junge steht auf und verliest eine Brandrede in Gedichtform.
Anerkennendes Nicken, die Hände recken sich in die Luft. Auch ich hebe die Hand, obwohl ich nur halb anwesend bin. Ich verrate niemandem, dass der andere Teil von mir in der Sammonkatu geblieben ist. Was würde Kerttu sagen, wenn sie Bescheid wüsste? Ich sehe die Arme des Mannes genau vor mir. Dann seinen Bauch, die Stelle, wo die Behaarung beginnt. Ein Triumphgefühl, die geheimen Stellen eines Menschen zu kennen, unerforschte Bereiche.
Für einen unfassbaren Moment liegt mir die ganze Welt zu Füßen, gebannt in diesen einen Gedanken – sein Bauch. Und die Leute um mich herum glauben, Bescheid zu wissen! Sie planen einen Freundschaftsbesuch in Berlin, überlegen, ob ein Lied die passende Ausdrucksform für ihre Botschaft ist. Aber sie haben nicht die Welt – die gehört mir.
Gestern hat das Mädchen die Hand nach mir ausgestreckt und ist auf meinen Schoß geklettert. Ich durfte es halten, füttern und ins Bett bringen. Seine Haare riechen nach Obst, seine Haut leicht stickig. Das ist Ellas Geruch. Ihr Atem ist morgens ein wenig bitter. Das spitze Gesäß schmerzt fast auf meinen Oberschenkeln, ich muss sie hin und her rücken, damit ich keine blauen Flecke bekomme. Ich lege meine Arme um sie, sie lehnt sich an meine Brust. »Eeva, ich will, dass du für immer bei uns bleibst!«
Sie schläft ein, ich gehe wortlos zur Tür, stehe einfach da. Er kommt auf mich zu, braucht nicht mehr zu fragen. Wir lassen das Licht an. Ehe ich ihn schmecke, betrachte ich ihn von Nahem.
Dagegen ist diese Welt nur eine Mullbinde, dünn und löchrig. Am Ende der Versammlung singt eine Frau mit hoher Stimme ein Lied, das ich noch nie gehört habe. Sie sieht mir kurz in die Augen. Ich erkenne ihre Sehnsucht – als würde sie sich ans Schwarze Meer sehnen, obwohl sie nie auch nur einen Fuß in sein salziges Wasser gesetzt hat.
Nach der Veranstaltung scheint Kerttu vor Energie und Ungeduld zu platzen. »Und jetzt gehen wir was trinken! Ich hab richtig Durst.«
Ich sehe ihn erst, als wir unsere Jacken abgelegt haben. Er sitzt mit dem Rücken zu uns. Lauri erzählt irgendetwas, malt mit den Händen große Bögen in die Luft. Später erfahre ich, dass er bereits Bescheid weiß. Aber er gehört zu denen, die selbst extreme Ereignisse mit einem Redeschwall einebnen können.
»Da sitzt ja dein Künstler«, sagt Kerttu.
»Er ist nicht mein Künstler«, widerspreche ich.
Es wird noch Monate dauern, bis ich mich zu sagen traue: meiner. Kerttu geht mit den lässigen Schritten einer Weltenbummlerin an den Tisch der Männer. Dies ist einer der Momente, die ich noch öfter erleben werde: Ich bitte mit meinem Blick um die Erlaubnis, neben ihm zu sitzen. Er lächelt. Etwas hat begonnen, aber er zeigt es nicht. Zwei Wirklichkeiten durchdringen einander. Die eine, die des Traums, schwebt über unseren Köpfen. In dieser Phase hält sie sich noch zurück – solange wir nicht nach ihr greifen. In Anwesenheit anderer ignorieren wir sie sogar.
Kerttu ist alles andere als schüchtern; sie nickt in Richtung der Weingläser. »Ihr könntet uns doch auch ein Gläschen mitbestellen, am besten zwei für jeden. Dafür erzählen wir euch, wie die Welt funktioniert.«
Er lächelt. Später werde ich lernen, dass es ein entschuldigendes und verteidigendes Lächeln ist, Situationen vorbehalten, in denen eine attraktive Frau ihn herausfordert. Ich bin nie dabei, wenn er Elsa dieses Lächeln schenkt, wenn sie streiten und danach ihre Zärtlichkeiten austauschen, im Schutz dieses Blicks. Wenn Elsa fragt: Willst du mich etwa zurückhalten, wenn ich schwimmen gehe? Er sieht seine Frau mit diesem einen Blick an, und sie wissen auch ohne Worte, dass sie schon lange nicht mehr voneinander zu träumen brauchten.
Aber jetzt gilt dieses
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