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Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
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grobe Leinendecke mit den präzise gebügelten Falten liegt schon auf dem Tisch, sie decken das Geschirr auf. Ihre Mutter gießt Weißwein in die Gläser und bewacht den Fisch; Anna tritt noch einmal ins Dämmerlicht des Frühsommerabends, um ein paar blühende Zweige vom Apfelbaum zu schneiden, als Tischdekoration.
    Sie geht den schmalen Pfad zum Schuppen hinunter, die Steine unter ihren Füßen sind kühl und glatt. Am gegenüberliegenden Ufer singt der Polartaucher jetzt durchdringender. Die Amsel hat in den Büschen ihr melancholisches Lied angestimmt, das für Anna immer nach Dur klingt. Der Schuppen ruht im samtenen Abendlicht. Die Tür quietscht. Die uralte Mischung aus Terpentin, Sägespänen und Benzin steigt Anna in die Nase. Das Eintauchen in diesen Geruch ist so intensiv wie ihr Besuch im See.
    Die Gartenschere hängt am Haken. Anna schaltet das Licht ein. Alte Farbpigmente, leere Tuben, vertrockneter Kleister, unbrauchbare Pinsel. Holzlatten auf dem Boden. Sie lässt ihren Blick über die Regale wandern, über Stapel von Farbexperimenten und Kohlestiftzeichnungen, die allermeisten im Skizzenstadium. Trotzdem dürften sie nicht hier in der feuchten Luft liegen, jedes halbwegs gute Kunstmuseum würde sie sofort kaufen. In der Staffelei am hinteren Ende des Schuppens klemmt ein mehrmals übermaltes Stück Leinwand. Anna betrachtet es zerstreut.
    Ihr geht ein halbfertiger, sorgloser Gedanke durch den Kopf, der den Wald, den Himmel, den Mai und auch den alten Schuppen umfasst, der hier hartnäckig seinen Platz behauptet, von einem Tag zum nächsten, Jahr für Jahr. Manchmal hüpft ein Eichhörnchen über sein Dach, auf der Wetterseite wächst Moos. Im Kontrast dazu die halbfertigen Bilder, auch sie auf ihre Weise ein Stück W irklichkeit, hier, abgeschieden, und doch mitten im Trubel der Welt.
    Etwas unwillig schließt sie die Tür hinter sich. Sie schneidet vier Zweige vom Apfelbaum gleich neben dem Pfad, die Schnitte hören sich an, als würde feiner Knochen brechen.
    Als sie zurückkommt, wartet ihre Mutter auf der Veranda.
    »Wie sah es dort aus?«
    »Das gleiche Chaos wie immer.«
    Ihre Mutter seufzt gutgelaunt und müde zugleich. »Da müsste mal jemand aufräumen und die Arbeiten beiseite legen. Papa sind die alten Sachen egal, er wird sich nicht darum kümmern.«
    Anna zuckt mit den Schultern. »Ich könnte mit Matias einen Frühjahrsputz machen.«
    »Das wäre natürlich toll. Dann wäre alles ordentlich, wenn Großmutter noch mal kommt.«
    »Abgemacht«, sagt Anna.
    Sie lächelt ohne Anstrengung, reicht ihrer Mutter die Zweige. Ihre Mutter spiegelt das Lächeln zurück.
    »Schön«, sagt sie. »Und jetzt wird gegessen.«
    1964
    Ihre Freundin Kerttu wartet an der Kreuzung. September, der Himmel ist eine hohe Kuppel, die Luft dünn. Die Stadt will vom näher rückenden Winter noch nichts wissen.
    Kerttu trägt einen neuen Stil, sie hat ihn bei Verwandten in San Francisco aufgeschnappt. Schwarzer Rollkragenpullover, Jeans, verhangener Blick, als hätte sie beschlossen, die Ungewissheit des Lebens mit den Augen kundzutun. Ihre akkurat gescheitelten Haare glänzen wie nass und hängen streng herab. Es dauert einen Moment, bis ich mich an diese Kerttu gewöhne; erst gestern trug sie kurze Röcke und Nahtstrumpfhosen.
    »Dann mal los«, sagt sie, »die Welt erfinden!«
    Sie hat mich überredet mitzukommen, obwohl ich ­weder Lust noch Zeit habe, die Klausuren stehen an, außerdem habe ich gerade den Mann und das Mädchen für mich entdeckt, meine Tage mit ihnen. Aber Kerttu lässt nicht locker. Ich muss hetzen, um bei ihren langen Schritten mitzuhalten.
    »Wo gehen wir eigentlich genau hin?«
    »Zu einer Versammlung«, sagt Kerttu, mehr nicht.
    Im Raum sitzen zehn junge Menschen. Dicke Brillen­gestelle, Zigarettenqualm, unausgesprochene Wünsche; Träume, die noch niemand in die Welt zu rufen wagt. Ein Mädchen in rotem Rock spricht über den Vietnamkrieg, ein Junge in grünem T-Shirt hört kaum zu und starrt auf ihren Mund, scheint in Gedanken schon bei lüsternen Phantasien für den Abend zu sein.
    »Aufregend, oder?«, flüstert Kerttu mit tiefer Stimme, ehe wir uns zwei Stühle suchen. Ihre amüsiert lächelnden Lippen hält sie verheißungsvoll geschlossen.
    Die junge Frau in der Ecke mustert neidisch Kerttus enge Jeans. Freude perlt in mir auf, strömt bis in die Fingerspitzen: Ich bin mit der wandelbaren Kerttu hier, ich bin ihre Freundin, und deshalb bin auch ich ganz neu. Wir setzen uns in die

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