Wahr
WARTE, ICH HOLE noch mein Portemonnaie«, sagt Großvater. »Vielleicht kaufen wir am Ende die ganze Stadt!«
Sie steigen in die Straßenbahn Linie drei. Sobald sie sitzen, schaut er sie fragend an: »Wen nehmen wir?« Anna sieht sich um. »Was ist mit ihr?«, fragt er und deutet auf ein Mädchen in der linken Sitzreihe. »Die?«
Anna mustert sie kurz. Sie hat rotbraune Haare und ein schüchternes Lächeln. Anna schüttelt den Kopf. Die Geschichte des Mädchens ist vollkommen gewöhnlich. Abiturklausuren, Angst, die im Takt ihres Herzens schlägt, Angst, dass die wichtigen Dinge woanders stattfinden. Ewige Hoffnung an sommerlichen Frühlingsabenden, wenn sie durch den Wald radelt und hohe Tannen den Weg beschatten, so als würden sich die Gestalten aus Kindheitsträumen über einen beugen.
»Nein, die nicht«, sagt Anna.
Ihr Großvater fügt sich, nickt.
An der nächsten Haltestelle steigt ein leicht verlotterter Mann ein. Kein stinkender Gescheiterter und deutlich jünger als die meisten Penner, um die vierzig etwa. Ihr Großvater wirft ihr einen fragenden Blick zu. Vielleicht der? Anna nickt.
Sie lehnen sich nach vorne. Der Mann setzt sich auf die schmale Bank im Durchgang zwischen zwei Wagen und holt sein Handy aus der Hosentasche. Es ist ein neueres Modell, hat allerdings schon einiges mitgemacht; der Mann hat es mit Tesafilm repariert.
Anna flüstert ihrem Großvater einen Namen ins Ohr: »Vesa.«
Ihr Großvater beobachtet Vesa interessiert. »Mechaniker? Bauarbeiter?«, schlägt er vor.
Anna überlegt. »Nein«, sagt sie entschieden, »Jurist. Er war mal Jurist.«
Ihr Großvater akzeptiert diese Entscheidung, nickt und steigt in die Figur Vesas ein. »Er hat an der Uni Helsinki studiert, zwischendurch ein Semester an der Cornell-Universität in New York. Er war mit einer Ärztin verheiratet. Es dauerte einige Jahre, bis sie kapiert hat, was los ist. Am Anfang hat sie seine Trinkgewohnheiten noch als weltmännisch bezeichnet.«
Anna setzt die Geschichte fort: »Sie hat erst nicht gemerkt, dass zu seinen Trinkgewohnheiten auch die Flasche Schnaps am Freitagabend gehört.«
»In den letzten Wochen wollte sie ihm noch einen Klinikplatz organisieren, aber Vesa hat abgelehnt, weil er im Job zu beschäftigt war.«
»Oh ja, das war er. Vor allem bei dieser Dienstreise nach Hamburg, leider die letzte, die Vesa gemacht hat. Er wurde von einer kroatischen Stripperin ausgeraubt, ist morgens auf der Reeperbahn aufgewacht und konnte sich nur noch an die bunten Wedel auf den Brüsten der Frau erinnern.«
»Dann rief sein Chef an.«
Das ist Vesas Leben. Vesa hat keine Angst mehr, das bringt die Freiheit mit sich. Aber er hat auch keine Hoffnung. Er träumt nicht mehr und hat keine Sehnsüchte mehr, und das gibt ihm ein wenig zu denken, denn er erinnert sich an den Spruch, den seine Mutter immer gesagt hat: Wer nicht mehr träumt, der ist bald tot. Vesa steigt am Hauptbahnhof aus. Sie schauen ihm hinterher. Aus dem Augenwinkel sieht Anna, dass ihr Großvater ebenso fasziniert ist wie sie.
»Das Gute an Straßenbahn-Geschichten ist, dass sie nie enden«, sagt er.
»Genau«, erwidert Anna. »Es gibt keinen Anfang und kein Ende.«
»Wollen wir ins Café Torni?«, fragt ihr Großvater. »Ganz nach oben in den Turm, so wie früher? Du nimmst eine Limonade und ich einen Kaffee?«
»Ich trinke inzwischen auch Kaffee.«
»Du? Und wahrscheinlich schnupfst du auch Tabak und trinkst morgens ein Bier gegen den Kater?«
»Dahin führt es also, wenn man ab und zu einen Kaffee trinkt?«
»Am Ende ja.«
Sie lächeln beide. Anna denkt: Manche Dinge ändern sich nie, und man möchte es auch gar nicht.
»Gut, gehen wir.«
Unter ihnen liegt die Stadt, geht hinter dem Olympiastadion allmählich in Wald über, überlässt sich im Süden dem Meer. Die Schiffe erinnern an neugierige Tiere, unterwegs ins Ausland, bereit, sofort zu vergessen, woher sie gerade kommen. Wenn man zum Horizont blickt, meint man, Tallin zu erahnen. Die Cola kostet vier Euro, der Kaffee drei.
»Habt ihr hier gesessen, als ihr jung wart?«
»Manchmal. Aber vor allem im Kosmos und im Hansa.«
Anna denkt an Eeva. Was würde passieren, wenn sie ihn ganz direkt fragen würde? Die Worte lauern schon auf ihrer Zunge, aber etwas im Gesicht ihres Großvaters stoppt sie.
»Schön wie ein Bild«, sagt er und skizziert mit einer flüchtigen Geste die Aussicht.
»Aber du belässt es bei der Skizze, nicht wahr? Du malst das nicht wirklich.«
Er lacht. »Die
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