Wahr
Stadtlandschaft unter uns? Nein. Landschaften waren nie mein Thema, ich habe immer abstraktere Dinge gemalt.«
»Wieso hast du aufgehört zu malen?«, fragt Anna zögernd, aber er scheint sich durch die Frage nicht bedrängt zu fühlen.
»Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich gedacht, dass ich mich aufs Leben konzentrieren sollte. Kunst zu produzieren kann schnell konträr zum Alltag stehen.«
Anna erinnert sich an eine der vielen Vernissagen ihres Großvaters. Bei dieser war sie sechzehn, hatte keine Lust auf Familienzwänge, umrandete sich die Augen demonstrativ mit pechschwarzem Kajal und sah aus wie eine Schicksalsgöttin. Ihr Großvater trat souverän auf, genoss die Aufmerksamkeit, erzählte einer Journalistin, wie ein Teil der Bilder entstanden war: »Auf dem Boden liegende Leinwände werden nach Zufallsprinzip bespritzt und übergossen, so entsteht unkalkulierte Kunst.« Bis hierher stimmte die Geschichte sicherlich. Dann fuhr er fort: »Manchmal mischt sich mein Mittagessen dazu, Erbsensuppe, Ketchup und so weiter. Ein Stück Ku chen, das ich eigentlich später zum Kaffee essen wollte, wird zu meinem Material, einer interessanten Erhebung auf der Fläche. Dieser Entstehungsprozess hat etwas von einer geheimen Landkarte. Ich überlasse mich dem Prozesshaften wie einem Wald, in dem ich mich verlaufe«, sagte ihr Großvater. Die Journalistin nickte zögernd, hielt aber ihr Lächeln aufrecht. Ihr Großvater sah über ihre Schulter hinweg zu Anna und grinste kurz; sie verstand sofort, dass er die Journalistin auf den Arm nahm.
Sie begriff, dass Humor sein Schutzschild gegen Nervosität war. Nachher saß er im Hinterzimmer und trank Kognak, sah erleichtert und niedergeschlagen zugleich aus.
Die Ausstellung wurde ein Erfolg. Die Lektüre des entsprechenden Zeitungsartikels einige Tage später am Frühstückstisch war für Anna einer der Momente, in denen ihr bewusst wurde, dass ihre Großeltern eine Ausnahme bildeten.
Sie dachte wieder zurück an die schläfrig ruhigen Stunden, in denen ihr Großvater sie malte. Er war ihr vertraut, doch bei seiner Arbeit verhielt er sich ein wenig anders. Anna nahm den Unterschied schon damals deutlich wahr, ohne ihn genau beschreiben zu können. Der Unterschied lag wohl in seinem Blick. Er platzierte sie auf dem Boden unter einem Fenster, sie tätschelte ihre Puppe und ließ bunte Autos um sich kreisen. Dass ihr Großvater anfing zu malen, bemerkte sie tatsächlich zuerst an seinem Blick.
Er goss leise pfeifend Verdünner in die Farben. Aus dem Augenwinkel sah Anna, dass er beiseitetrat und wieder zurück zur Staffelei ging. Sein Kinn hob sich, die Ärmel waren zur Hälfte hochgekrempelt. Er nahm einen Pinsel, schaute, fing an.
»Wie läuft es mit deiner Abschlussarbeit?«, fragt ihr Großvater jetzt. »Bist du bei deiner Weltuntersuchung schon im theologischen Kapitel angekommen? Oder steckst du noch tief in den sechziger Jahren?«
»Ich stecke tief in der Vergangenheit. Mein Betreuer sagt, dass ich mein Thema stärker an der Politik festmachen soll, die Stellung der Frau allein genügt nicht.«
Ihr Großvater lacht. »Ich würde sagen, die ideale Quelle dafür steht direkt vor dir. Frag was du willst, und ich gebe dir einen Augenzeugenbericht.«
»Und ins Literaturverzeichnis schreibe ich dann ›Großvater‹?«
»Genau! Das Wissen eines Großvaters ist die ideale Quelle, das muss doch jedem klar sein.« Er kramt eine Zigarette hervor, lässt sie unangezündet. »Die Jahre waren im Nachhinein betrachtet ein einziges lautes Chaos. Eine verrückte Zeit. Jedes Mal, wenn ich nach Paris fuhr, war wieder etwas Neues passiert und meine Studienfreunde hatten sich wieder etwas ausgedacht. In Finnland war man im Abseits, obwohl es natürlich auch hier die entsprechenden Zirkel gab. Doch die hatten etwas Zahmes und Improvisiertes im Vergleich zu Paris und Amsterdam. Hier machten sie Aktionen, auf die meine Freunde in Paris schon Ende der Fünfziger und Anfang der Sechziger gekommen waren; da hatte ich dann auch manchmal mitgemischt. Aber in Helsinki habe ich immer einen Abstand zu diesen Kreisen gewahrt.«
»Was fand in diesen Kreisen denn genau statt?«
»Sie wollten die Marschroute für die Zukunft festlegen.« Ihr Großvater betont den Satz übertrieben stark, als würde er über eine verrückte Party sprechen, eine Party, an deren Stimmung man mit Kopfschütteln und Wehmut denkt: Da waren wir noch wild und ausgelassen! »Ständig musste man sich erneuern. Wenn
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