Wahr
ich einen Stil oder eine Technik zu meiner eigenen gemacht hatte, gab es schon wieder eine neue Vorgabe. Klassische Malerei war unmodern, man musste die Welt neu gliedern und provozieren. Zumindest musste man Techniken kombinieren. Mir kam es so vor, als wäre Politik wichtiger geworden als Kunst. Oder nicht mal Politik, sondern das Spektakel, und zwar das Spektakel um seiner selbst willen. Man wollte stören.«
»Und dir war das zu modern?«
»Vielleicht. Jedenfalls denke ich, dass der Fokus zu sehr auf dem Schockieren lag, und die technische Sorgfalt und die eigene Unbeirrbarkeit zu kurz kamen. Als die ganzen Ideen aus Paris dann rübergeschwappt sind, kannte ich das alles schon. Wahrscheinlich fand ich die Ideen kindisch. Obwohl ziemlich viele von meinen hiesigen Freunden mitgemacht haben.«
Sie schweigen einen Moment. Ihr Großvater lässt seinen Blick durch das Café wandern, als wollte er sagen: Wieso über Vergangenes reden, wenn doch die Welt voll im Gange ist, jetzt, hier, dieses Leben! Im Vergleich dazu ist jedes Kunstwerk bedeutungslos wie eine Sandburg.
»Was ist mit der Frau da drüben?«, fragt er und nickt in Richtung des Ecktisches. »Was wissen wir über sie?«
»Über wen?«
»Die junge Frau, die Schokoladenkuchen isst.«
Anna dreht sich um. »Die traurige?«
Die Frau hat Falten der Resignation um die Mundwinkel, als würde sie sich auf dieser Welt über nichts mehr freuen können. Sie trinkt Kaffee und isst ihren Kuchen mit halbgeschlossenen Augen.
»Was sie wohl hat?«
Anna schaut genauer hin, entdeckt die Spur der Trauer. Die Frau sieht aus, als wäre sie halb amüsiert darüber, dass die Welt sich weiter dreht, dass manche extra herkommen, nur um eine Cola zu trinken, dass andere eine Zeitung kaufen und sie ernsthaft lesen, und wieder andere hier arbeiten, die Tische abwischen und einen schönen Tag wünschen.
»Vielleicht hat sie jemanden verloren«, schlägt ihr Großvater vor. »Ihre Mutter? Ihren Vater?«
»Nein«, widerspricht Anna. »Jemand anderen. Ein Kind.«
»Wirklich? Wie kommst du darauf?«
Anna hört seine Frage nicht. »Und zwar letzten Sommer. Ganz plötzlich.«
»War es ein Unfall? Ein Autounfall vielleicht?«
»Es ist ganz plötzlich passiert, genauso schnell, wie man achtlos ›bis morgen‹ sagt. Genauso schnell hat die Welt sich der Frau verschlossen, ist seitdem wie von Satzzeichen umrahmt, von einer Klammer links und rechts. Unerreichbar. Ab sofort ist für sie alles nur noch ein grelles Theaterstück, in dem sich die Karusselle auf den Spielplätzen unablässig drehen und die grellbunten Plakate an den Haltestellen Digitalkameras preisen.«
Ihr Großvater beobachtet sie, prüft ihren Gesichtsausdruck.
Anna blinzelt, greift nach ihrer Sonnenbrille und setzt sie auf. »Ist hell heute.«
»Und?«, fragt ihr Großvater, »was denken wir uns noch aus?«
Die Frau vom Ecktisch steht auf und sieht kurz zu ihnen herüber, ehe sie das Café verlässt. Als hätte sie alles mitbekommen. Kein Lächeln. Nur ein Blick, dann ist sie weg.
Anna blinzelt, schaut wieder zu ihrem Großvater, der herauszufinden versucht, was sie gerade denkt. Sie kann hinter seinem Gesicht ein zweites Gesicht erahnen, das junge Gesicht, das sie nie kannte, aber das er Jahrzehnte gehabt hat. Er zieht eine Augenbraue hoch, lächelt, zündet die Zigarette an, bläst Rauch in die Luft. Die Geste passt auf den Fußballplatz oder in dunkle Hauseingänge. Mit ihr nahm er Leute für sich ein, drückte Leidenschaft aus, bezog Stellung. Mit ihr warf er Umrisslinien auf die Leinwand, testete neue Techniken. Die Geste gehört zu seiner Jugend.
Auf einmal greift ihr Großvater auf das uralte Spiel zwischen ihnen zurück.
»Ich habe ein Mädchen getroffen«, sagt er, ohne sie anzusehen.
Anna geht auf die gemeinsame Erinnerung ein. »Was für eins?«, fragt sie und legt die Sonnenbrille wieder auf den Tisch.
»Sie trägt eine Trauer mit sich herum, von der sie niemandem erzählt.« Jetzt blickt er Anna in die Augen.
Sie sieht, dass er Bescheid weiß.
»Das Mädchen hat Augen wie kleine Teiche, so viele Tränen sind darin«, sagt er.
Über ihre Wange rollt eine Träne, eine zweite, über den Hals hinunter bis ins T-Shirt. »Vielleicht sollte sie von ihrer Trauer erzählen«, sagt sie stockend.
Ihr Großvater nickt. »Das habe ich ihr auch gesagt.«
»Das wird sie auch«, sagt Anna. »Sobald sie dazu bereit ist.«
1965
Kaum sitzen wir im Taxi, tut sich eine Kluft zwischen ihm und mir auf. Der
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