Wahr
Elsa und machte es sich ihm gegenüber am Tisch bequem, »und du skizzierst alles, was wesentlich an mir ist. Wenn du wirklich wieder malen willst, könnte doch ich dein Thema sein.«
Er lachte auf. »Das schaffe ich nie.«
»Versuch es«, beharrte Elsa. Sie schlug die Beine übereinander, stützte den Kopf in die Hände, schloss die Augen.
Vor ihm wurden nahezu alle ihre Gesichter sichtbar. Viel zu selten war es ihm gelungen, Elsa umfassend zu sehen, sämtliche Versionen in einem Augenblick.
An einen dieser Momente erinnerte er sich: Elsa packte gerade den Koffer für ihre Reise. Er sah ihren Rücken, für den er Zärtlichkeit empfand, den er im Vorbeigehen berührte, wann immer sich die Gelegenheit bot. Dennoch musste er feststellen, dass er sich nie genau eingeprägt hatte, wie Elsa von hinten aussah. Streng genommen konnte seine Frau in Rückansicht jede beliebige Frau sein, eine Fremde. Auf einmal nahm dieser Gedanke eine erschreckende Schubkraft an: Elsa besaß ein Arsenal von Perspektiven, Bewegungen und Gesten, zu denen er keinen Zugang hatte, zu denen er kein Verhältnis entwickelt hatte, und darin war sie ihm fremd. In diese Erkenntnis mischte sich auch eine Spur von Triumph, als habe er endlich den Grund für seine gelegentlichen diffusen Hassgefühle entdeckt. Und wenn diese Gefühle so stark werden konnten, dann musste die Liebe eine Lüge sein, dachte er. Er erinnerte sich daran, wie er sich eingeredet hatte, dass ihn Elsas Art, Brot zu essen – sie rupfte kleine Stücke ab und steckte sie sich in den Mund –, anwiderte, genauso ihre Angewohnheit, die Gemüsebeilage immer exakt auf ein Viertel des Tellers zu platzieren. Und er hasste auch Elsas liebevolle Rituale, mit denen sie sich nach ihren Reisen um Eleonoora kümmerte. Elsa nahm sie geradezu in Beschlag, ersann ganz eigene Spiele, bei denen er außen vor blieb. Ella schaute ihre Mutter dann an, als wäre sie eine Sonne, blieb in ihrer Nähe, wollte immerzu auf ihren Schoß, strich wie eine Katze um sie herum.
Die schlimmsten Auseinandersetzungen ereigneten sich immer einige Tage nach ihren Reisen. Während der Wortgefechte prägte er sich jede ihrer Gesten ein, notierte innerlich jede Erhebung und Einbuchtung ihres Körpers. Der erste Tag nach ihrer Rückkehr verstrich meist in seltsam dünner Atmosphäre. Elsa sah aus dem Fenster, umhegte das Mädchen, sprach kaum mit ihm. Sie schien sich nach ihrer Arbeit zu sehnen, zurück auf ihre Reisen. Und dann, wie aus dem Nichts, war der Streit einfach da. Elsa schlug mit den gleichen Sätzen zu wie immer, auch er griff zurück auf das, was sich bewährt hatte.
Einmal hatte er sich an einem solchen Abend an die Tür gestellt, Elsa bei irgendeiner alltäglichen Beschäftigung beobachtet. Er hatte den Gedanken zugelassen: Ich liebe dich nicht mehr. Indem er sich diesen Gedanken gestattete, konnte er Elsa plötzlich vollständig sehen. Diese Frau: Braune Haare, Brille, der Rock spannte leicht an den Hüften, die schweren Brüste, die ein Kind gestillt hatten, ruhig unter der Bluse verborgen. Eine Frau, die über einen gewaltigen Vorrat an sachlichen Worten verfügte, aber auch über sehr viele liebevolle, die verborgene Gesten der Müdigkeit hatte, die nur er kannte. Elsa achtete sorgsam darauf, anderen nicht zu viel von sich preiszugeben. Nur zu Hause versank sie in irgendeine Tätigkeit, bügelte, legte Bettwäsche zusammen, blätterte Unterlagen durch, in Gedanken, unkontrolliert und ohne die übliche Körperspannung.
»Huch! Stehst du schon lange da?«, hatte Elsa gefragt und zu ihm aufgesehen, als sei sie verlegen, dass er sie unbemerkt angeschaut hatte.
»Du bist schön.«
»Oh«, sagte Elsa überrascht, lächelte, bückte sich, um ein neues Kleidungsstück aus dem Wäschekorb zu nehmen – wahrscheinlich hatte sie also gebügelt.
»Ich weiß nicht, ob ich dich noch liebe.«
Sie hatte ihn überrascht angeblickt und den Satz entgegengenommen wie einen unerwarteten Schlag, ohne gleich seine Wucht zu erfassen.
Das ist die Weggabelung, hatte er gedacht. Wenn er so weitermachte wie bisher, wenn er Elsa weiter für das Mädchen hielt, das sie in ihren ersten Jahren gewesen war, würde er ihr nicht mehr nahe sein können. Man musste den anderen immer wieder neu kennenlernen.
Als hätte Elsa seine Gedanken erraten, öffnete sie die Augen und sah ihn mit einer Spur von Abweisung an.
Sie seufzte leise. Er nahm an, dass sie eine Anklage vorbringen würde, irgendeine alte Geschichte. Als diese
Weitere Kostenlose Bücher