Wahr
diese Sprache sechs Jahre gelernt, kann Balzac lesen und im Restaurant Kaffee, Orangensaft und ein blutiges Steak bestellen, kann mit abwechslungsreichem Vokabular über das Wetter plaudern und mich ebenso an einem Gespräch über gesellschaftliche Entwicklungen beteiligen – und doch wundert es mich, dass all dies permanent anwesend ist, diese Sprache, in einem anderen Land. Bei meiner Unterhaltung mit der Araberin beobachtet er mich, lächelt zum ersten Mal.
»Du redest, als hättest du immer hier gewohnt.«
Ich lege meine Hand in seine. Er greift zu, kann aber sein Befremden nicht abschütteln. Wer ist diese Frau? Er könnte mich mit jeder beliebigen Pariserin verwechseln. Zum Beispiel mit dem Mädchen dort drüben mit dem freizügigen Dekolleté.
Eigentlich möchte er am liebsten fort, noch schnell ein paar Mitbringsel für Elsa und das Mädchen besorgen und dann verschwinden, als gäbe es mich nicht. Er will zurück nach Helsinki und vergessen, dass er jemals so dumm war, so gedankenlos und unverfroren, diese Reise mit mir zu buchen. Er wird mich also nicht seinen Freunden vorstellen, sondern mich alleine in Museen schicken, wird sich aus Pflichtgefühl mit ein paar Leuten zum Essen treffen und schließlich seine lächerliche Entscheidung aus der Welt schaffen, indem er mir ein Rückflugticket für eine andere Maschine kauft. Das beschließt er, während wir einander an den Händen halten und auf ein Taxi warten.
Im Wagen schiebe ich das Schuldgefühl beiseite, denn Paris weht mir entgegen. Häuser über Häuser, Baustellen und schon fertige Neubaugebiete, in deren Gärten Träume von Andersartigkeit und Ruhm gedeihen. Drinnen unter den Dächern wandeln sich die Lebensgeschichten allen Träumen zum Trotz in gewöhnliche. Und zeitgleich trocknet überall zwischen den Gebäuden die Wäsche, ein endlos flatternder Fahnenzug, der die Belanglosigkeit der Dienstage preist.
Dann kommen die schmiedeeisernen Balkone und die Boulangerien, das Paris, das ich von Bildern kenne. Mir entweicht ein unkontrollierter Jubelschrei.
Er denkt an Elsa, an die Wochen, die er mit ihr in Paris verbracht hat. Als sie zwanzig waren, studierte Elsa in Helsinki und er hier. Immer wenn Elsa genug Geld für einen Flug hatte, besuchte sie ihn; manchmal kam sie mit dem Zug.
Sonntags spazierten sie an der Seine entlang und nahmen sich ein Museum vor. Später saßen sie im Café, er mit einer Zeitung und seinen begeisterten Kommentaren, Elsa mit einem Lehrbuch, denn sie wollte erfolgreich sein und keine Sekunde von ihrem Vorsatz abweichen. Sie gingen durch den Jardin de Luxembourg, kauften Crêpes, schauten bei einem Tennisspiel zu; sie waren jung, ihre Liebe war noch neu. Natürlich gab es Streit, Missverständnisse, demonstratives Türenknallen. Meist war er derjenige, der zuerst wütend wurde, aber Elsa hielt stur dagegen, was er nicht ertrug, und so wanderte er trotzig durch die Straßen, kaufte Zigaretten im Quartier Latin und genoss es, unverstanden zu sein. Er ging am linken Seineufer entlang, stieg hinunter an den Fluss, schloss Bekanntschaft mit Außenseitern. Wenn es den perfekten Ort für Streit gab, dann war es Paris. Unversehens entstand auch ihr gemeinsames Versöhnungsritual: Nach seinem ersten stundenlangen Protestzug durch die Stadt bekam der Mann Hunger und betrat an der Place de la Sorbonne ein kleines Bistro, bestellte ein Omelette oder vielleicht auch ein warmes, mit Roastbeef belegtes Baguette. Es war purer Zufall: Elsa suchte ihn nicht, ging nur den Boulevard Saint-Michel entlang, sah die einladenden Cafés auf dem Platz und betrat dasselbe Bistro. Sie machten die Begegnung nicht größer, bliesen sie nicht zu Filmformat auf, das entsprach nicht ihrem ungekünstelten Umgang. Elsa setzte sich ihm einfach gegenüber, lächelte und bestellte vermutlich das gleiche Omelette oder Baguette. Einer von beiden zeigte sich nachgiebig, und der im Nachhinein fast belustigende Streit löste sich in Luft auf. Der Abend dunkelte bereits, als sie zur Metrostation gin gen, und keiner brauchte auszusprechen, was beide dach ten: Das Leben, auch ein glückliches, ist in seinem Vollzug immer schlichter als in den Träumen. Aber es wiegt mehr.
Das Hotel ist typischer für Paris als jede Postkarte, die aus dieser Stadt versandt wird. Schmale Gänge, ein enger Fahrstuhl, steile Treppen und halbhohe gusseiserne Gitter vor den Fenstern. Die Tapeten verlocken zu Zärtlichkeiten; eigentlich müssten wir hier geradezu
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