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Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
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aneinanderkleben, doch wir legen uns schlafen wie Geschwister. Ich bin hellwach. Das Zimmer ist ein Verlies.
    Mitten in der Nacht stehe ich auf, taste mich ins Bad, finde den Lichtschalter nicht, erledige den Toilettengang im Dunkeln. Als ich die Tür öffne, stoße ich mit ihm zusammen. Er ist ein Schatten, für einen Moment weiß ich nicht, wer er ist.
    Ich schreie. So laut, dass es mir selbst in den Ohren wehtut. Er fasst meinen Schrei als Bitte oder Hilferuf auf, umarmt mich fest.
    »Psst, keine Panik. Alles ist gut«, sagt er.
    Ich zittere, kann mich nicht beruhigen. »Du ekelst dich vor mir.«
    »Nein.«
    »Doch, du hasst mich, ich sehe es doch.«
    »Nein. Ich liebe dich.«
    »Das sind nur Worte.«
    »Sie sind trotzdem wahr.«
    Morgens ist er wieder stumm, wie aus Holz geschnitzt. Er will seine Freunde allein treffen und ihnen erklären, wer ich bin, ehe sie mich sehen. Ich lasse meine Wut im Hotelzimmer zurück und schüre meine Neugierde, gehe allein los.
    Den Vormittag verbringe ich im Museum. Ich entdecke ein Gemälde, vor dem ich eine ganze Stunde verharre. Es ist von Rembrandt. Die Frau scheint auf mich zuzuschweben, ihre Haut leuchtet. Niemand kennt ihre Hoffnungen, ihre Freuden und ihre Zärtlichkeit, und doch erhellen sie ihr Gesicht, als würde eine Lampe in ihr brennen.
    Danach gehe ich ins Kino. Ein Berufskiller wird von Paris aus bis in den Süden verfolgt und gerät in haarsträubende Schwierigkeiten. Er versteht die Frau nicht, der er begegnet, und sagt, er sähe nur ein Bild. Möglicherweise will die Frau aber auch gar nicht verstanden werden – sie würde gern auf Partys gehen, ab und zu trickst sie Gangster aus. Sie genießt es, ohne Ziel am Flussufer entlangzulaufen. Sie will tanzen, sich um nichts kümmern, einfach leben, doch der Mann versteht das nicht. Es erstaunt sie, dass Menschen auf Fotos immer an etwas denken, an Künftiges oder Vergangenes oder zum Beispiel an etwas Banales wie das nächste Fußballspiel, und nie werden die Betrachter diese Gedanken erfahren.
    Ich denke an Rembrandts Frau im Louvre, an all das, was ich nie wissen werde. Ich denke an die Menschen auf allen Bildern, auf allen Bildern der Welt. Hinter ihren lächelnden Mündern und Augen verbergen sich weitere ganze Welten! Der Brotkanten vom Frühstück! Der Schnupfen! Das Liebesgeständnis, das auf seine Aussprache wartet.
    Nach dem Kino fahre ich mit der Metro Richtung Norden. Der Geruch von Karamell und die stickigen unterirdischen Luftströme spucken mich am Fuß einer weißen Kirche auf die Erde zurück. Auf einmal ist die Welt voller Gesang, feinem Dunst und Sonnenstrahlen, voller Rufe und munterer Gesichter von Straßenmusikanten. Männer pfeifen mir nach, Kinder laufen auf mich zu und bieten mir ein Stück Brezel an. Die Kirche ist lä­ch­erlich protzig, schamlos. Aber ich will kein Heiligtum, ich will die Welt; schmutzige Pfützen auf der Erde und Rauchkringel in der Luft.
    Ich steige die Treppen hoch und lasse es zu, dass ich mich in den winzigen Gassen verlaufe. Irgendwann er­reiche ich den Platz, den ein kleiner schwankender Jahrmarkt dominiert. Er versteckt seine Melancholie hinter bunten Farben, die jedes Frühjahr aufgefrischt werden. Ein Riesenrad, ein Karussell und kleine Elefanten, die für alle Ewigkeit im Kreis gehen. Ich bezahle bei einem schmalgesichtigen Mann mit Schirmmütze und grauen Bartstoppeln, leihe mir für einen Franc ein Fernglas und besteige eine knallgrüne Gondel. Langsam schwebe ich nach oben. Auf einmal liegt mir die ganze Stadt zu Füßen, all die gewundenen Gänge und in der Mitte der hoch aufragende Turm. Tief unter mir wimmeln die Menschen, weinen und lachen, lieben und betrügen sich, verzeihen einander und setzen sich zum Essen.
    Hinter einem der vielen Fenster könnte auch ich wohnen. Ich beherrsche die Sprache. Hier würde niemand den Kuhstallgeruch an meinen Händen riechen. Ich würde lernen, aujourd’hui so auszusprechen, dass keine Silbe mehr meine vielen Sommer und Winter im moosigen Nadelwald verraten würde. Ich wäre eine Frau von heute, gestern wäre ein Wort, das ich ohne Sehnsucht ausspräche.
    An der Rezeption im Hotel erwartet mich eine Nachricht, die mir feierlich wie ein Schmuckstück überreicht wird. Darauf steht eine Adresse und Entschuldigung. Unter seinem Namen, mit Ausrufezeichen: bitte komm .
    Ich betrete den Raum, als wäre ich eine Fremde. Paris ist jetzt in meine Gesten eingewirkt, der Nadelwald ist nichts als eine Erinnerung. Die offizielle

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