Wahr
Straßen für die Fußgänger erobert hat. Du hast bei der Demo gegen den Irakkrieg fremde Menschen geküsst und daran geglaubt, dass deine Kuss-Fotos den dummen Begriff des gerechten Krieges ins Lächerliche ziehen. All you need is love hast du gesungen, erinnerst du dich nicht? Das warst du!«
»Das war jemand anders, nicht ich. Ein Kind war das. Ein dummes kleines Kind.«
Saara schweigt. Anna schaut sie an. Ihre Augen sind traurig.
»Du glaubst nicht mehr an die Liebe«, sagt sie, lässt ihren Satz einfach fallen wie einen Stein. Eine kühle Feststellung.
Anna sitzt still da. Saaras Satz dringt in sie ein, lässt ihre Arme und Beine erstarren.
In Saaras Stimme schwingen Enttäuschung und Wut mit: »Du musst deine Probleme unbedingt angehen, oder aus dir wird der traurigste Mensch der Welt. Niemand, wirklich niemand kann es sich erlauben, Liebe als kindlich abzutun und den Wunsch, etwas zu verändern, als naiv.«
Die Straße eilt auf sie zu und unter ihnen hindurch, das Laub flirrt.
»Du bist anders geworden«, sagt sie noch. »Letztes Jahr. Aber darüber redest du ja nicht.« Saara zögert.
Anna denkt: Wenn sie die Namen des Mannes und des Mädchens erwähnt, breche ich sofort zusammen.
Saara spricht sie aus.
Anna bricht nicht zusammen, löst sich nicht in Luft auf. Sie sieht sich fallen, sitzt aber noch immer da.
Sie halten an einer Kreuzung, ein Stück vom Haus entfernt. Gelb gestrichen, von Tannen beschattet. Apfelbäume im Garten, eine Hundehütte. Am Giebel rankt Efeu, klettert bis unters Dach.
»Vielleicht gehe ich doch allein«, sagt Anna fragend.
Saara runzelt die Stirn. »Meinst du?«
»Irgendwie schon.«
»Wenn du willst.«
»Könntest du so lange warten? Ein bisschen spazieren gehen?«
Warum möchte sie Saara nicht mitnehmen? Wegen des Streits? Oder weil sie das, was Eevas Schwester erzählt, allein hören will? Eevas Geschichte ist ihre.
»Okay«, sagt Saara, legt ihr die Hand auf die Schulter. »Ruf mich an, wenn was ist. Ich gehe da hinten die Straße lang, vielleicht stoße ich ja auf das berühmte romantische Landleben.«
»Gut.« Sie denkt: Was auch immer geschieht, wir werden Freundinnen sein. Saara, die Aktive, Saara, die Mutige, und ich.
Liisa Arteva, geborene Ronkainen, eine Frau, die Anna nicht als Eevas Schwester erkannt hätte, öffnet die Tür sofort nach dem Klingeln und lächelt. Sie hat Anna erwartet.
Anna erfasst Liisa Artevas Gesicht. Blaue Augen, Lachfalten. Vielleicht hatte Eeva denselben Ausdruck. Dasselbe Lachen. Dieselbe Art, das Handgelenk zu umfassen.
»Na dann«, sagt sie, als hätte sie eine halbe Stunde ohne zu atmen an der Haustür gewartet. »Ich bin Liisa Arteva.«
Anna nimmt ihre kleine Hand, sie erinnert sie an einen Vogel. »Ich bin Anna.«
»Ich habe Tee gekocht«, sagt Liisa Arteva, wie um etwas zu sagen, weist Richtung Küche.
Anna zieht ihre Jacke aus, wirft einen Blick ins Wohnzimmer. Sie sucht nach Fotos. Auf dem Bücherregal stehen zwei Bilderrahmen, kleine Kinder. Zwei Enkel vielleicht? Sie folgt Liisa in die Küche.
Für eine Fünfundsechzigjährige hat Liisa Arteva noch immer etwas sehr Mädchenhaftes. Das mag an ihrer Kinnpartie liegen oder an ihrer Stupsnase. Oder ihren wachen Augen. Sie war ein Kind, das im Unterricht loskichern musste und schon vorher Angst vor diesen Lachanfällen hatte, das oft an den unausweichlichen Tod der eigenen Mutter und den Atomkrieg denken musste, das sich auf die Lippen biss, wenn die Lehrerin auf der elektrischen Orgel spielte, und mit zittriger Stimme Lobe den Herren mitsang. Eeva und sie hatten eine Geheimsprache. Den Schulweg sind sie oft gerannt, im Waldstück haben sie Pferd gespielt und gewiehert. Gemeinsam wagten sie verbotene Dinge, mopsten Hefeteig, der am Aufgehen war, und verfütterten einen Eimer Blaubeeren an eine Kuh, um zu sehen, ob die Milch blau wurde. Einmal tranken sie eine Flasche Hustensaft aus, weil einem davon so schön schwindelig werden sollte. Sie übergaben sich hinter der Scheune und schworen, nie wieder etwas Alkoholisches anzurühren.
Liisa glaubte die gesamte Kindheit über, dass ihre Gedanken Unfälle auslösen konnten. Eeva war in dieser Zeit unbeschwerter, verwahrte ihre Ängste in stillen Gebeten. Als Eeva nach Helsinki zog, wollte Liisa ihr folgen. Sie bewarb sich an der Krankenschwesternschule und bekam einen Platz. Erst später gestand sie sich ein, dass sie ihren Traumberuf verfehlt hatte. Sie war Krankenschwester geworden, damit sie ihre Sorge um andere
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