Wahr
besser ertrug – damit sie sie retten konnte.
Liisa Arteva ist gewohnt zu tun, was man von ihr erwartet. Ihre Freuden sind einfach, ihre Wünsche schlicht. Apfelkuchen aus eigenen Äpfeln – der Trick sind ein paar Stücke Rhabarber und der türkische Joghurt im Boden, saftig! –, das Lachen ihrer Enkel in der Samstagssauna, der Morgenkaffee, den ihr Mann liebevoll zubereitet. Weihnachten, Jahr für Jahr. Das ist genug. Vielleicht ist es sogar mehr, als Liisa zu hoffen wagte; sie hatte sich sicherheitshalber früh auf Verluste eingestellt.
Anna schickt ihr Phantasiebild fort, erinnert sich an das, was Saara ihr gerade gesagt hat. Sie weiß über Liisa Arteva nicht mehr, als was sie sieht: eine lächelnde Frau mit kleinen Händen.
»Ich habe ein paar Fotoalben herausgesucht«, sagt ihre Gastgeberin leicht atemlos und schenkt Tee ein.
Eigentlich ist Anna skeptisch gegenüber Leuten, die keinen Kaffee anbieten.
Sie weiß nicht, wie sie beginnen soll. Eevas Namen wagt sie nicht auszusprechen. Sie sucht Halt in den Bäumen und Sträuchern im Garten. Typisch.
»Stachelbeeren?«
»Ja, aus denen koche ich jedes Jahr Marmelade«, sagt Liisa Arteva, dankbar über das Thema. »Sie glauben nicht, wie gut die ist. Möchten Sie probieren?« Ohne eine Antwort abzuwarten, geht sie zum Schrank und holt das Glas. »Das I-Tüpfelchen ist der Zimt und eine Prise Vanille. Ich esse die Marmelade zu den Keksen, die meine Tochter mir aus Frankreich schickt.« Sie seufzt, so wie Menschen wie sie seufzen. Eine Spur resigniert, aber einverstanden: Die Welt hat immer den anderen gehört.
Nein, korrigiert Anna sich. Das denkt sie sich nur aus, sie interpretiert die Eigenheiten dieser Frau vollkommen willkürlich. Liisa Arteva ist weder angepasst noch neurotisch, das sind nur Schlüsse, die Anna aus ihrem Küchenhobby und den rastlosen Augen zieht.
Anna probiert die Marmelade, Liisa wartet auf ihr anerkennendes Nicken. Anna nickt.
»Noch besser ist sie mit Crackern«, sagt Liisa. »Erst Butter drauf, dann die Marmelade.«
Auf den Kinderbildern ist Eeva ein braungebranntes Landmädchen mit langen Beinen. Zöpfe, Kleid, ewiger Sommer. Liisa ist etwas jünger, das sieht man am Größenunterschied.
»Wir hatten Kühe, Hühner, Katzen und Hunde. Auf die kleinen Kälber und Hühner haben wir oft aufgepasst.« Liisa lacht. »Eeva hat als Kind immer gesagt, sie will auf dem Land bleiben. Aber dann wurde aus ihr eine Leseratte, sie wollte unbedingt studieren.«
»Hatten Sie in Ihrer Zeit in Helsinki viel miteinander zu tun?«
»Eeva hatte ihren Freundeskreis und ich meinen. Aber manchmal hat sie mich eingeladen, wenn sie ein Fest gegeben hat oder für Freunde gekocht hat. Wir sind zusammen spazieren gegangen, meistens sonntags.«
Auf den nächsten Fotos sind die Schwestern schon junge Frauen. Liisa lächelt bei ihrem Anblick. »Ach, ich erinnere mich gut, sie war so verliebt. Ich habe sie darauf angesprochen, aber sie wollte nicht verraten, in wen.«
»Haben Sie sie nie zusammen erlebt?«
»Natürlich, später. Aus meiner Sicht waren sie eine Familie. Ich habe sie ab und zu besucht, vor allem im letzten Jahr. Manchmal habe ich meine Schwester und das Mädchen auch im Park getroffen. Wir haben uns auf eine Bank gesetzt und Äpfel gegessen. Ich glaube, das war bereits gegen Ende der Beziehung, das Mädchen war schon älter, sechs vielleicht.«
Fotos vom letzten Jahr mit dem Mädchen, dann ein Sprung zurück zum Klassenfoto: Eeva sitzt lächelnd in der Mitte, hält das Schild, Klasse 3b.
»Wenn man dieses Bild sieht, denkt man, dass sie ein glücklicher Mensch war.«
»War sie das denn nicht?«
Liisa Artevas Lächeln friert nicht ein. »Manchmal denke ich, dass Eeva unverhältnismäßig geliebt hat. Das habe ich ihr auch gesagt. Ich habe ihre Gefühle nicht immer verstanden. Sie hat gefragt: ›Wie kann man denn verhältnismäßig lieben? Wieso sollte man überhaupt? So etwas gibt es nicht. ‹ Ich denke ja eher, jeder sollte so leben, dass er sich keinem anderen Menschen ausliefert oder zu sehr nach dessen Vorstellungen lebt. Das sind Dinge, die man lernen muss, sonst kommt man nicht zurecht. Man kann die Verantwortung für sich selbst nicht in andere Hände geben.«
»Hat sie versucht, das zu lernen?«
Liisa Arteva lacht auf. »Wohl kaum. Sie war der Ansicht, dass der Sinn des Lebens darin besteht, sich an einen anderen Menschen zu verlieren und gerade dabei wiederzufinden. Sie hat mit mir darüber gesprochen, nachdem der Mann
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