Wahr
einem kühlen Saal am Senatsplatz. Professor Falck testet meine Aussprache, fragt, was ihm gerade in den Sinn kommt, ich antworte. Der Himmel scheint in seinen Fugen zu knarren, aber der Dom vor den Fensterscheiben steht fest. Die Aussprache meines aujourd’hui ist tadellos.
Nach der Prüfung gehe ich über den Senatsplatz, der Himmel kippt, die Erde scheint abzuheben.
Elsa hält an ihrem Vertrauen in guten Kuchen fest, auch wenn die Wirklichkeit in den Fugen knarrt. Kuchen und selbstgemachte Limonade, die für die Maifeiern schon im Hinterzimmer der stadtältesten Konditorei angesetzt ist. Sie will mich sofort nach der Prüfung einladen, obwohl ich mein Zeugnis erst in einem Monat kriege. Ich nehme die Einladung an und weiß nicht warum. Die Strumpfhose kneift, mein Magen blubbert. Elsa bestellt uns Kaffee und Limonade und dreierlei Kuchensorten.
»Und jetzt stoßen wir auf deinen Abschluss an«, sagt sie und hebt ihr Limonadenglas.
Hinter ihrem Lächeln wundert sie sich über sich selbst. Letzten Samstag – einer dieser wirbeligen Tage, an denen sie den gesamten Hausstand in seine Schranken weisen will – ist sie beim Ordnen der Schlafzimmerkommode auf meine Kleidung gestoßen. Bluse, Kleid, Hose, BH. Sofort ist alles klar: Genau das hat sie befürchtet! Genau das hat sie drei Jahre lang an den Rand ihres Bewusstseins gedrängt! Dann rügt sie sich und findet sechs oder sieben Gründe, weshalb meine Kleidung in ihre Kommode geraten ist. Kleidung wird falsch sortiert, Socken und dergleichen immer wieder, warum nicht auch BHs. Natürlich habe ich mich nicht in ihrem Schlafzimmer umgezogen. Nicht angezogen, nicht ausgezogen. Als ich vor ihr sitze, glaubt sie ihren Beschwichtigungen: Eeva hintergeht mich nicht, Eeva ist gut.
Wir stoßen an und sprechen Französisch, aus Spaß und einfach nur, weil wir es können. Meine Lüge verschwindet in dem Prickeln der Limonade, wird unwesentlich. Ich vergesse sie, so wie Elsa den abgewandten Blick ihres Mannes und die Frage ihrer Tochter vergisst: Wenn Eeva nicht meine Mutter ist, sondern du, von wem ist dann Eeva die Mutter?
»Was hast du jetzt vor?«, fragt Elsa. »Dir steht alles offen.«
Ich spiele eine brüchige Zuversicht vor, lege zum Zeichen meiner Orientierungslosigkeit die Hände auf den Tisch.
Es gelingt mir, meinen Satz als scheue Bitte vorzutragen. »Ich möchte weiter bei euch arbeiten. Gern bis zum Ende des Jahres.«
Elsa nickt. An ihrem Blick erkenne ich, dass sie abwägt. Sie denkt an letzten Samstag, daran, wie sie ihren Mann auf meine Kleidung angesprochen hat. Arglos und wie zufällig stellt sie den Satz in den Raum. Und er antwortet ebenso arglos, seine Erwiderung enthält eine kleine Rüge: »Wir müssen sie ermahnen, besser achtzugeben.«
Elsa sieht ihn an. Sie möchte es glauben, und in diesem Moment glaubt der Mann sich sogar selbst. Elsa atmet auf, spricht von anderen Dingen, obwohl sie ihre Unruhe nicht gänzlich abschütteln kann.
Er sieht Elsa an, wie sie am Küchentisch sitzt, auf einmal kleiner, ein wenig hilflos. Die Unsicherheit lässt sie schrumpfen, und er erinnert sich daran, wie sie als junges Mädchen war. Er geht zu ihr, schließt sie in die Arme.
Ihre Liebe ist die Nähe der Leiber, ebenso selbstverständlich wie die Arme, die sich nach Elsa ausgestreckt haben.
19.
SAARA FÄHRT, ANNA sitzt neben ihr. Saara ist gegen Autofahren, liebt es aber, am Steuer zu sitzen. Sie haben sich den Wagen von Annas Vater geliehen. Die Tour wird nicht lange dauern, eine gute Stunde Richtung Norden.
Genauso sind sie auch aufgebrochen, als sie den Führerschein hatten. Sie fuhren zum Flughafen, saßen im Restaurant und sahen den startenden Maschinen zu, tranken einen Kaffee nach dem anderen. Saara überlegte, ob sie lieber nach Berlin oder New York gehen sollte.
Anna erinnert sich an die Unruhe, die in ihr aufstieg, als Saara von ihren Plänen erzählte. Saara würde fortgehen, Postkarten mit massenhaft Ausrufezeichen schicken, ihr von ihrem Glück und den Menschen berichten, die sie kennenlernte. Anna selbst würde zu Hause bleiben, wäre nicht in der Lage, ihr Leben zu verändern, geschweige denn die Welt. Sie würde sich weiter im Umkreis weniger Viertel bewegen. Von zu Hause in den Supermarkt, vom Supermarkt zur Arbeit, von der Arbeit nach Hause. Nie würde sie wagen, sich woanders neu zu erfinden.
»Bist du aufgeregt?«, fragt Saara.
»Ja.«
Die sportliche Front des Autos frisst kilometerweise Asphalt. Anna kommt es vor, als würde
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