Wahrheit (Krimipreis 2012)
Ich komme wieder.«
Er stand auf. Sie hielt die Augen geschlossen.
»Jib ’n Kuss, Stevie«, sagte sie. »Jib ’n Knutsch. Mein einziger braver Junge. Kommst zu spät.«
Villani spürte die Tränen kommen, neigte sich vor, nahm ihre Schultern mit sanften Händen und drückte sein Gesicht auf ihres, küsste die eingefallene Wange unter dem Verband, empfand Verbitterung und spürte deutlich, wie groß die Ungerechtigkeit in seinem Leben war.
An einem Wintertag, in der großen Pause, die Rücken zum Schutz vor dem eisigen Wind an die Wand des Schulcontainers gedrückt, sagte Kel Bryson, das kleine Affengesicht mit der großen Klappe:
Hat man deine Mum je gefunden?
Im Wagen klingelte sein Handy.
Colby.
C olby sah aus, als käme er geradewegs vom Golfplatz. »Searle sagt, es ist vom Tisch, stimmt’s?«, sagte er.
»Für morgen«, sagte Villani. »Die Frage ist, hat Ruskin es von der Jugendfürsorge oder der Abteilung für Sexualverbrechen? Oder von beiden?«
Colby öffnete eine auf dem Tisch liegende Akte, blätterte bis zu einer bestimmten Seite, setzte eine schmale randlose Brille auf. »Ich weiß, dass es bei Sexualverbrechen keine Aussage gibt«, sagte er. »Sagen Sie mir, was ›Missbrauch‹ heißt.«
»Ich hätte sie wiederholt dazu gebracht, mir einen zu blasen. «
Colby ließ sich nichts anmerken. »Stimmt das?«
Villani musterte ihn eine Weile. »Was glauben Sie?«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll.«
Villani stand auf, ging durch das lange Zimmer, an dessen Wänden Drucke hingen, registrierte jeden einzelnen Schritt, kaute die Galle in seinem Mund.
Colbys Stimme, lauter, aber ruhig. »He, kommen Sie zurück, Sonnenschein.«
Villani drehte sich um, Hand auf der Türklinke.
Colby winkte ihn heran, vier Finger so dicht beieinander wie ein Vogelflügel. »Kommen Sie her, mein Junge.«
Villani zögerte. Dann ging er zurück, er konnte nicht anders. Sie saßen da, Kinn gesenkt, fixierten einander, ihre gemeinsame Vergangenheit spürbar gegenwärtig. »O Gott, was für eine üble Scheiße«, sagte Colby.
»Ich kündige«, sagte Villani. »Muss vorher nur noch ein paar Sachen erledigen.«
»Wie lange ist sie schon auf der Straße?«
»Etwa eine Woche. Sie hat aber schon früher mit dem Abschaum rumgehangen. Sich herumgetrieben.«
»Drogen?«
»Was sonst?«
»Wie alt?«
»Fünfzehn.«
»Eigentlich noch ein Baby.«
Viele Wochen lang hatte Baby Lizzie Koliken gehabt, was auch immer Koliken sein mochten, ihre nächtlichen Schreie verfolgten ihn bis in die Träume, seltsame Geschichten spannen sich um das hartnäckige Geräusch. Abwechselnd gingen sie mit ihr durchs Haus, den Flur entlang, durch die Küche, das Wohnzimmer, mehrmals in der Nacht, man trug sie herum, sie hörte auf zu weinen, man legte sie so sanft ins Bettchen, als ließe man eine Seifenblase landen, legte sich wieder schlafen, sie gab einen Laut von sich, der zum Geschrei wurde, zum Stachel im Kopf, man stand wieder auf.
Manchmal schlief Lizzie zwischen den Stillzeiten. Manchmal schummelte er, wenn das Geschrei ihn weckte, dann stupste er Laurie an und log, er sei zuletzt dran gewesen; sie stand auf, ohne zu wissen, wie lange sie geschlafen hatte. Er redete sich ein, bestimmt habe sie es mit ihm schon genauso gemacht, sie wollten beide doch nur irgendwie über die Runden kommen. Aber er wusste, sie würde so etwas nicht tun, sie konnte nicht lügen.
Der Unterschied lag darin, dass Laurie nicht zu einem Tatort aufbrechen musste, sobald das Telefon klingelte. Vielleicht hatten bedröhnte, besoffene Volldeppen eine Knarre und um zwei Uhr morgens eine Superidee, vielleicht waren es auch die hartgesottenen Routinetypen, zwei, drei Überfälle in der
Nacht, dann ein paar Monate Urlaub im Norden, angeln, rumhuren. Beide Sorten konnten einen umbringen.
Einmal klingelte es, als er gerade Lizzies Windel wechselte, würgen musste, als er den gelben Matsch roch, ins Ostfenster fiel das erste dreckige Licht, Hirn, Füße, Hände – er war rundum wie betäubt, nur die Nase funktionierte. Zwanzig Minuten später stand er in einer von der Sydney Road abgehenden Gasse, Rücken an der Mauer, und lauschte zwei hirntoten Dieben, die gerade vom Dach stiegen, wo sie eine Lage Wellblech geklaut hatten. Neben ihm lächelte Xavier Benedict Dance sein Hundelächeln.
»Heutzutage hören die Mädchen früher auf, Babys zu sein«, sagte Villani. »Die Phase zwischen süßem kleinem Mädchen und Schweinebacke wird immer kürzer.«
»Ist mir
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