Wahrheit (Krimipreis 2012)
stand offen, Licht fiel auf ihre Zähne.
Sie wusste, dass sie sterben würde.
Villani hatte die Straße zur Hälfte überquert, die Motorhaube des Wagens, eines Audi, die getönte Windschutzscheibe, der Biker, er sah die Pistole, den Lärm hörte er nicht.
Das Mädchen fiel um. Der Mann neben ihr fiel um.
Er schoss im Laufen, die Helme drehten sich zu ihm um, der Sozius schwang seine Pistole über den Kopf des Bikers hinweg.
Villani stolperte.
Dove war neben ihm, Dove hielt seine Waffe beidhändig, er schoss einmal, zweimal, Löcher in der Windschutzscheibe, der Mann auf dem Soziussitz stand jetzt.
Villani rappelte sich auf, erschoss den Motorradfahrer, er wusste, er hatte ihn getroffen, man wusste es. Er schoss wieder. Dove neben ihm schoss auch, erneut, der Helm des Sozius’ ruckte, der Kragen seiner Lederjacke hob sich, er kippte seitlich weg.
Der schwarze Audi bog nach links, fuhr auf den Mittelstreifen, kam langsam näher.
Schreie, viele Menschen schrien, ein Kind schrie.
Villani sah die Gesichter in dem Wagen, den Kopf, den Arm und die Pumpgun, die auf der Beifahrerseite nach draußen ragte.
Lauf zurück.
Zu spät.
»O Scheiße«, sagte er, sah das Mündungsfeuer aus dem Lauf der Pumpgun, fühlte ein Rupfen an Hemd und Jackett, schoss auf den Schützen, er und Dove erwiderten das Feuer, standen nebeneinander, leerten ihre Magazine.
Der Audi hielt einen Meter vor ihnen an. Ein Loch in der Windschutzscheibe auf der Fahrerseite. Dove hatte den Fahrer erschossen. Jemand hatte ihn einmal angeschossen, und jetzt hatte er jemanden erschossen. Schussscheu war Dove nicht.
Stille.
Birkerts und Tomasic trafen ein.
Sie gingen zu dem Mädchen, sahen die in dem Audi zusammengesackten Männer, sahen die Biker am Boden liegen, hörten das Bike ticken. Villani roch Schießpulver, heißes Waffenmetall und Benzindünste.
Das Mädchen hatte sich zusammengekauert wie ein Baby, das an Koliken litt. Einer ihrer Begleiter lag auf der Seite, verlor Blut, überall Blut. Sein Bruder hielt seinen Kopf.
Sie müsste tot sein, im Sterben liegen.
»Polizei«, sagte Villani, nicht laut.
Sie hob den Kopf und sah ihn aus dunklen Augen an.
Nicht tot.
Er kniete neben ihr, Dove kniete auch, sie drehten sie sanft um, sie wehrte sich nicht, blieb schlaff.
Lag nicht im Sterben.
War nicht angeschossen.
»Bist jetzt in Sicherheit«, sagte er. »In Sicherheit.«
Sie blinzelte, sie weinte, sie lächelte ein mattes kleines Lächeln.
Nicht tot. Nicht Lizzie. Gerettet.
»Sanitäter«, sagte Villani. »Sagt ihnen, fünf Verletzte. Schusswunden. «
S ie saßen in dem großen Vernehmungsraum, Villani, Dove und zwei Dolmetscher, ein dicker Mann mit teigiger Haut, der außerdem Friedensrichter war, und eine strenge junge Frau, Gerichtsdolmetscherin für vier osteuropäische Sprachen.
Und das Mädchen. Es hieß Marica.
Man musste dem Mädchen keine Rechte vorlesen. Man warf ihr nichts vor. Sie machte bereitwillig ihre Zeugenaussage. Sie war Zeugin mindestens eines Verbrechens.
Dove stellte die Fragen, das war sein Recht.
Er war ruhig und freundlich, lächelte, diese Seite von Dove kannte Villani noch nicht. Dove geleitete Marica durch ihre Geschichte, angefangen an dem Tag im Ort Ţăndărei, als ihr Onkel den Mann mitbrachte, der ihr und ihrer Zwillingsschwester sagte, sie könnten nach Australien gehen und sich dort als Friseurin oder Kosmetikerin ausbilden lassen, australische Mädchen wollten diese Arbeit nicht machen, außerdem seien sie hässlich und hätten große Hände und könnten keine feinen Dinge tun. Sein Lohn wäre ein kleiner Prozentsatz ihres Verdiensts, sobald ihre Ausbildung beendet wäre, das sei nur gerecht.
Es dauerte lange, man musste Pausen einlegen, nach Einzelheiten fragen. Marica kannte einige Namen, nur die Vornamen, nicht viele.
Endlich kamen sie zu der Nacht im Prosilio, zu der Fahrt von Preston, zu der Einfahrt für den Müllwagen, zu den Treppen
und dem Aufzug und den Zimmern im Himmel, dem Badezimmer mit der gläsernen Wanne, dem Champagner und dem Kokain.
Und den Männern.
Den zwei Männern.
Der winzigen Kamera. Es gab eine Kamera.
Zu dem, was sie ihnen antaten. Den Schmerzen.
Marica weinte, Tränen der Scham und der Demütigung, weil sie Fremden, Männern, diese Dinge erzählen musste. Die strenge Dolmetscherin tröstete sie nicht. Als der dicke Mann, wie es schien, den Versuch unternahm, brachte sie ihn mit einem Blick zum Schweigen.
Und dann waren die Fotos an der Reihe. Dove hatte
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