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Wahrheit (Krimipreis 2012)

Titel: Wahrheit (Krimipreis 2012) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Temple
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tut.«
    Sie reckte sich zu ihm hoch, und er neigte sich hinunter. Sie küsste ihn, hielt seinen Kopf mit beiden Händen, die Fingerspitzen in seinen Haaren, ein Druck auf seiner Kopfhaut. Dann löste sie sich von ihm.
    Villani wischte sich über den Mund. Er empfand Trauer. »Dein Lippenstift«, sagte er. »Er ist verschmiert.«
    Er machte kehrt und ging, sah sich aber noch einmal um, er konnte nicht anders. In dem getönten Licht wirkte ihr Gesicht bleich, ihr Mund grau. Ihre Augen konnte er nicht sehen.
    Zu Hause. Das Telefon ausgestöpselt, Handys ausgeschaltet, er duschte, schloss die Jalousien, legte sich auf das große Bett. So müde. Er trug zu viel Last mit sich herum. Und er hatte kein Mitleid mehr übrig.
    Wenn das Mitleid Sie verlässt, mein Junge, ist es Zeit zu gehen. Dann sind Sie kein vollständiger Mensch mehr.
    Singo.
    All die Jahre hatte er das Wissen in sich getragen. War bei Rose gewesen und hatte gewusst, dass sie ihren Sohn hingerichtet
hatten. Greg war ein übler Zeitgenosse gewesen, aber er hatte zu ihr gehört, so wie Tony und Corin zu ihm gehörten.
    Lizzie nicht. Sie gehörte nicht zu ihm. Sie gehörte zu Laurie. Er hatte Laurie ihr Kind genommen, so wie Dance Rose’ Kind genommen hatte.
    Er ertrug diese Gedanken nicht, ging ins Bad, wo er die Schlaftabletten von Birkerts’ Schwester fand, zwei waren noch übrig. Nach einer Weile versank er in einen Schlaf voller trauriger, bedeutungsloser Träume.
    Am Morgen kurz vor sieben wachte er auf, blieb lange liegen, dachte an nichts, überwältigt von der Welt, von dem, was ihn erwartete. Seine Hüftknochen fielen ihm auf. Er hatte abgenommen.
    Rose’ Schatzkästlein. Das würde er als Erstes machen, er konnte ihr nicht unter die Augen treten, wenn dem Ding etwas zustieß.
    In der Küche hörte er Radio.
    … die geänderte Windrichtung, die spät am gestrigen Tag die evakuierten Orte Puzzle Creek, Hunter Crossing, Selborne und Morpeth und zahlreiche Farmen rettete, hat nur für eine vorübergehende Atempause gesorgt. Da die Feuer nun weitgehend außer Kontrolle geraten sind und heute wieder extreme Bedingungen herrschen, setzt der Katastrophenschutz die größten Hoffnungen auf eine Änderung des Wetters … man erwartet, dass die Wetterlage anhält…
    Im Wagen schaltete er sein Handy an. Dutzende von Nachrichten.
    Später. Er würde sich später damit befassen.
    Auf dem Freeway, unterwegs zu Rose’ Haus, klingelte das Handy. Er stöpselte es in die Freisprechanlage.
    »Villani.«
    »Steve, hier ist Luke, hör zu, unser Heli war oben, und der Typ sagt, Dad ist in Lebensgefahr, es gibt keinen Weg raus, der verfluchte Wind dreht sich gerade und …«

    »Er braucht keinen Weg raus«, sagte Villani. »Für einen Weg raus hat er keine Verwendung.«
    »Tja, egal, ich fliege in dem Hubschrauber hin. Der Typ setzt mich ab, der ist auch ein verdammter Irrer.«
    Luke Villani, der pampige, jammernde kleine Junge, der besserwisserische Jugendliche, den man in seinem Zimmer einschließen und dem man das Radio wegnehmen musste, damit er seine Hausaufgaben machte, der sich bei Bob eingeschleimt hatte, der jedes Mal angerannt kam und beschützt werden wollte, wenn Mark ihn bedrohte, dessen höchstes Ziel im Leben es war, Ansager beim Pferderennen zu werden.
    »Hast du mit dem Doktor gesprochen?«
    »Ich warte auf seinen Rückruf.«
    »Ist ’ne völlig bescheuerte Idee«, sagte Villani. Er spürte die straffen Sehnen an seinem Hals, bis rauf in den Kopf. »Ich sage dir nur: Lass es.«
    Es war seine Pflicht, das zu sagen, sein gutes Recht und seine Pflicht.
    »Du kannst mir nicht mehr sagen, was ich tun soll«, sagte Luke. »Der eine ist mein Dad, der andere mein Bruder. Ich fliege.«
    Mein Bruder.
    Das hatte noch keiner gesagt. Villani hatte geglaubt, dass niemand es je sagen würde. Es war ihm unaussprechlich vorgekommen.
    »Wo steht der Scheißheli?«, fragte er.
    »Essendon«, sagte Luke. »Grenadair Air. Wirraway Road. Nicht weit vom Tulla Airport.«
    »Warte auf mich.«
    »Jawollsir«, sagte Luke mit Bobs Stimme.
    Sie warteten auf dem glühend heißen Asphalt neben dem glänzenden Vogel mit den schmalen, silbrigen, hängenden Flügeln: Mark, Luke und der Pilot.

    »Ich schätze, dafür kann ich in den Knast kommen«, sagte der Pilot. Er sah aus wie zwanzig.
    »Ich weiß, dass Sie dafür in den Knast kommen können«, sagte Villani.

S ie flogen über das Gewimmel der Stadt, die Vororte und die niedrigen Hügel, flogen über die kleinen Siedlungen und

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